Erstveröffentlichung

Jacopo da Pontormo

Pietro Aaron

60.01 Pontormo-Aaron 240Aus der Sammlung des Kardinals Leopoldo de’Medici (1617─1675) stammt dieses dunkle Bildnis eines Musikers (Ritratto di musicista. Öl auf Holz, 88 x 67 cm. Uffizien, Florenz Nr. 743) von Jacopo da Pontormo (1494─1554). Es stellt einen melancholisch wirkenden Mann von mindestens 35 Jahren vor, der auf einem Lehnstuhl mit Armlehnen sitzt. Er trägt eine schwarze Schaube und ein flaches dunkles Barett. Denkbar ist, daß es sich um einen Kleriker handelt. Mit beiden Händen hält er ein Notenbuch im Querformat, das geöffnet ist. Dieser Umstand deutet jedoch auf einen Komponisten aus Florenz Anfang des 16. Jahrhunderts.

Offenbar wurde früher für diese unbekannte Person bereits ein Musiker benannt. Mina Gregori schreibt jedenfalls: »Die Identifizierung des Mannes mit dem Musiker Francesco dell‘Ajolle in alten Inventaren ist nicht gesichert«. Dieser Musiker findet im New Grove of Music auch keine Erwähnung. Damit ist die Frage nach dem Porträtierten wieder offen. Genannt wird dagegen ein Dutzend Musiker aus Florenz, die sich musikgeschichtlich um die Zeit einen Namen gemacht haben bzw. wichtige Positionen in der Stadt als Organisten oder Chorleiter an den Hauptkirchen von Florenz einnahmen.

Da die Noten des im Bild gezeigten Buches nicht identifizierbar sind, kann die Eingrenzung nur über den passenden Zeitraum der Geburt vorgenommen werden. Anhaltspunkt ist daher der Zeitpunkt des Entstehens des Gemäldes: 1518, denn das Bildnis eines Musikers soll sogleich nach der Pala Pucci in San Michele gemalt worden sein. Zieht man von diesem Jahr rd. 35 Jahre der Person ab, ergibt sich in etwa 1480-83 als vermutliches Geburtsjahr des Musikers. Da der ebenfalls genannte Costanzo da Festa sich hauptsächlich in Rom aufhielt, erweist sich von dem Dutzend nur Pietro Aaron (ca. 1480 Florenz ─ nach 1545) als zeitlich passend. Was weiß man noch von diesem Musiker?

Über viele Musiker dieser Zeit um 1500 sind nur sehr spärliche Nachrichten überliefert. Doch dem Musikwissenschaftler Bonnie J. Blackburn ist es gelungen, Teile seines Lebenslaufs aufzuklären. Aarons Werke werden zwar in erhaltenen Korrespondenzen benannt, sind aber bis auf Io non posso più durare verloren gegangen. Das ist verständlich, denn der Druck von Noten hatte gerade erst begonnen. Bekannt ist aber, daß Aaron geistliche Musik (Messen und Motetten) komponierte und vor allem Madrigale. Besser rekonstruieren ließ sich seine Tätigkeit als Musiktheoretiker, denn in diesem Bereich stand er mit seinem Freund Giovanni Spataro in Briefwechsel. P. Bergquist hat 1964 seine Dissertation The Theoretical Writings of Pietro Aaron vorgelegt. Daraus geht hervor, daß er in seiner Eigenschaft als Sänger engagierter Vertreter der Polyphonie war.

Wer jedoch Aarons Musiklehrer gewesen ist, bleibt dagegen weiterhin im Dunklen. Über seine Karriere liegen erst ab 1516 Angaben vor. Möglicherweise war er 60.01-Pontormo-Aaron-NEB 2- Unbekannter Künstler:
Pietro Aaron. 16. Jh.
Autodidakt. Es fällt aber auf, daß er mit den Spitzenkräften der Zeit wie Josquin de Près, Jacob Obrecht, Heinrich Isaak und Martin Agricola in Verbindung stand. Da Aaron offenbar nicht aus vermögender Familie stammte, wählte er den Beruf als Priester und ging als Leiter der capella an die Kathedrale von Imola. Zudem wurde er Kanoniker in Rimini. Diese Aufgabe ließ ihm Zeit, seine musiktheoretischen Publikationen zu schreiben. Die erste bekannte lautet: Libri tres de institutione harmonica (Bologna 1516). Von dem Humanisten Giovanni Antonio Flaminio wurde das Manuskript ins Lateinische übersetzt. Der Poet Achille Bocchi rühmte daraufhin Aarons »Befreiung der Musik von Schmutz und trüber Nachlässigkeit«. Zusätzlich zum Schreiben sang Aaron im Kathedral-Chor von Imola.

Sein Ruf strahlte offenbar bis nach Venedig aus, denn der Oberprior der Ritter des Hl. Johannes von Jerusalem, Sebastiano Michiel (seit 1490 im Amt), holte ihn in seinen complesso della sede Gran Priorale. Ihm dedizierte Aaron seinen Toscanellode la musica (Venedig 1523). Von diesem Druck gibt es ein Reprint. In Venedig blieb er, bis 1536 sein Mäzen starb. Daraufhin zog er sich in ein Kloster nahe Bergamo zurück zu den fratres cruciferi, einem ursprünglich von Irland ausgehenden Krankenpflegeorden, der in vier Städten Italiens Niederlassungen besaß. Dort konnte er seine publizistische Tätigkeit als Ordensbruder fortsetzen und noch das Erscheinen seines Lucidario erleben, das kurz vor seinem Tod 1545 auf den Markt kam. Posthum folgte sein Compendiolo.

60.01-Pontormo-Aaron-NEB 1Frontispiz von Pietro Aaron:
Trattato della natura et cognitione
di tutti gli tuoni… 1525
Blackburn ist der Meinung, daß Aaron wegen seiner jüdischen Herkunft lebenslang zurückgesetzt wurde, indem man ihm eine Stelle als Organist oder Chorleiter verweigerte. Da es noch keine Ausbildungsvorsdchriften gab, entschied sonst das Talent. Aber Aaron war ─ übrigens ein Jude im Musikbetrieb Italiens wie Farissol (s. Beitrag Bartolomeo Veneto, Farissol) ─ auch Autodidakt. Das führen seine Biographen auf seine unorthodoxe, teilweise unsystematische Art der Analysen zurück. Seine Begabung muß jedoch groß gewesen sein, denn von seinen erfolgreicheren Kollegen wurde er geschätzt und anerkannt.

Glücklicherweise existieren zwei Vergleichsbilder von ihm. Im Frontispiz sitzt Aaron in etwas resignierter Pose; im Oval wirkt er unwirsch. Daß es sich bei Pontormos Portrait um Aaron handelt, geht zudem aus dem Umfeld Pontormos, der Stadt Florenz, aus dem passenden Alter und aus dem Notenbuch als Anzeichen für einen Komponisten hervor (s. Beitrag Holbein d. J., Philip van Wijlder).

Ein kleines Indiz kommt noch hinzu: Blackburn erwähnt ein verlorenes Werk von Aaron,
Lentulus sum; der Titel (Ich bin einer aus der altadligen Familie Lentuli) findet seine Entsprechung in der beobachteten Melancholie des Porträtierten. »Melancholiker, das waren die Denker unter den Künstlern, die nach dem Sinn des Lebens fragten, anstatt es hinzuznehmen, wie es ist. Man darf davon ausgehen, daß auch Pontormo es so sah« (Kia Vahland/Süddeutsche Zeitung15.3.2014).


Copyright Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2016

Literatur
Bonnie J. Blackburn. In: The New Grove of Musics. Vol. I London u.a. 2001
Burton Dunbar (Hg.): German and Netherlandish Paintings 1450─1600. Kansas City 2005
Mina Gregori: Uffizien und Palazzo Pitti. München 1994 S. 202

Bildnachweise
Mina Gregori: Uffizien und Palazzo Pitti. München 1994 S. 202
Frontispiz zu Pietro Aaron: Trattato della natura et cognitione di tutti gli tuoni di canto f figurato. Venedig. 1525. Christie’s. Lot 268 (23.1.2014)
musicologie.org/Biographies/aaron_pietro.html (14.2.2014)