Erstveröffentlichung

Jan Cornelisz Vermeyen
Jean II. de Trazegnies

73.01-Vermey-Traz 240
»Namenlos blieb bisher jener Herr von Stand, der Vermeyen um das Jahr 1540 in großem Format porträtierte. Dies mag Verwunderung erregen, da das Gemälde die individuellen Gesichtszüge des Dargestellten betont und man Hinweise auf die Person in den weiteren Einzelheiten des Bildes zu finden meint«, schrieb 1988 Katrin Simons-Kockel von der Kunsthalle Karlsruhe (Bildnis eines Mannes. Inventar-Nr. 2743. Öltempera auf Eiche 78,5 x 64,5 cm). Hendrik J. Horn betitelte ihn in seiner Vermeyen-Monographie als Dignitary, einen Würdenträger, wußte aber auch nicht, dessen Anonymität aufzuklären. Simons-Kockel ordnete aus stilistischen Gründen das Bildnis um 1540 ein; doch dann wäre es nicht in der Regierungszeit von Margarete von Österreich (1507─ 1530) entstanden, sondern fiele in die Amtszeit ihrer Nachfolgerin, Maria von Ungarn (1505─1558), einer Kaiserschwester.

Zweifellos wird die Würde des Dargestellten mehrfach betont: durch den breiten Pelzkragen, der den Blick auf eine kräftiger Goldkette freigibt, durch die Gestik der Hände. Außerdem gehört das Bildnis zu der Kategorie, die Anfang des 16. Jahrhunderts unter Regenten auffällig wurde: ihr Körper sollte ─ selbst bei Halbportraits ─ durch Volumen Gewicht zeigen. Dieses Imponiergehabe ist in Europa durchgängig zu beobachten: bei Cranachs Portraits von Regenten wie Friedrich dem Weisen, König Zygmunt I. und König Jan (s. Beiträge Cranach d. Ä.: Zygmunt I. und König Jan (Szapolyai), aber auch der Ganzfigur von König Heinrich VIII. von Holbein d. J. Selbst in Italien legten die Herrscher auf optisches Gewicht durch raumfüllende Gestalt Wert wie bei Raffaels Lorenzo de’Medici von 1518 (Christie’s).

Doch welche gewichtige Persönlichkeit bietet sich hier dem Betrachter dar? Bei der Datierung 1540/43, einem vermuteten Alter von 60 Jahren und einer Person aus der staatstragenden Schicht Flanderns kommt eine Person aus den 70er Jahren des 15. Jahrhunderts in Betracht. Besondere Würde kam einem Abkömmling einer altadeligen burgundischen Familie zu, der de Trazegnies. Der Vater des infrage kommenden Mannes war Pair de Hainaut, erblicher Sénéschall von Liège/Lüttich und Baron de Trazegnies und Silly, Prinz von Rognons und Seigneur de Irchonwelz, Haquenies, Fannekls, Saint-Vaast, Onneziers u.a. Dementsprechend spielte Jean I. (der Vater also) um 1505 eine wichtige Rolle am Hofe Königs Philipp des Schönen als Oberkammerherr und nach dessen Tod (1506) bei Kaiser Karl V. (lt. Edouard Poncelet).

Bei dieser ´Erblast´ war es für den Sohn selbstverständlich, ebenfalls bei Hofe Karriere zu machen, zunächst als Ehrenritter bei Eleonore von Österreich, der älteren Kaiserschwester, damals noch Infantin von Spanien, die Manuel von Portugal heiratete. Er begleitete den jungen spanischen König Karl auf der Reise, als er zum Kaiser gewählt werden sollte und auf manchen Reisen danach als sein Berater. Dabei wuchs er selbst zum gewichtigen Staatsmann heran; 1521 wurde er sogar in den Rang eines Generals erhoben, der Brabant, Hennegau und Lüttich zu verteidigen hatte. Er genoß so großes Vertrauen bei Karl V., daß er für ihn 1526 als paranymphe um die Hand von Isabella von Portugal anhalten durfte. 1529 avancierte er zum Generalkapitän der Grafschaft Hennegau/Hainaut. Als nach dem Tod von Margarete von Österreich (1530), der Statthalterin der Niederlande, die Kaiserschwester Marie von Ungarn die Regentschaft über die Niederlande antrat, ehrte diese Trazegnies dadurch, daß sie ihren Antrittsbesuch auf seinem Schloß machte. In dem Jahrzehnt von 1540 an residierte Trazegnies als Gouverneur und Burgherr von Ath.

Da weder ein Wappen noch eine Beschriftung im Gemälde vorkommen, stellt sich die Frage, warum die Wahl auf Trazegnies fiel. Zum einen ist es das passsende Alter (wobei sein Geburtsjahr nicht exakt überliefert ist), zum anderen die breite Goldkette des gehobenen Adels. Aber vor allem die staatsmännische Haltung weist auf ihn, denn kaum ein anderer der Führungskräfte trat so oft als Vertreter des Kaisers in Erscheinung. Hier tritt er deshalb auf, als trage er eine Botschaft vor. Der abzulesende Text ist von Vermeyen angedeutet, läßt sich aber nicht mehr lesen. Schließlich fallen die Entstehung des Gemäldes und sein Aufstieg in den Rang eines Gouverneurs zusammen in das Jahr 1540.
Im übrigen kommt ein anderes Indiz hinzu. Im schattierten Hintergrund schweben über beiden Schultern an den Bildrändern weibliche Gestalten, die Tücher schwenken. Allgemein werden darin Sibyllen, antike Prophetinnen, vermutet (vgl. Beitrag). Sie gaben den römischen Herrschern in Krisensituationen verschlüsselte Hinweise für die Zukunft. Es kann eine Anspielung auf die beratende Funktion von Trazegnies sein, der dem Kaiser zukunftsweisende Ratschläge zu geben hatte. Es ist aber auch denkbar, daß darin ein Hinweis steckt auf seine Mutter aus der Familie de Ligne, die den Vornamen Sibille trug.

PS. Im Netz wird zu diesem Gemälde von printplace.co.uk Thomas More als Dargestellter genannt. Da dieser Staatsmann und Philosoph von Hans Holbein d. J. sehr charakteristisch wiedergegeben wurde, zeigt ein Bildvergleich sofort, daß diese Feststellung unhaltbar ist. Außerdem widerspricht der Tod More‘s 1535 dem Entstehungsdatum des Portraits (1540).

© Christoph Wilhelmi Stuttgart 2016


Literatur
Hendrik J. Horn: Jan Cornelisz Vermeyen. I/II Doornspijk 1989
Edouard Poncelet. In: Biographie Nationale de Belgique. Vol. 25 Bruxelles 1930/32
Katrin Simons-Kockel. In:150 Gemälde vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Karlsruhe 1988 Bd. I

Bildnachweis
Hendrik J. Horn: Jan Cornelisz Vermeyen. I/II Doornspijk 1989. Cover