Erstveröffentlichung


Hans Baldung Grien
Johannes Sapidus

17.03 B-Grien-Sapidus 240Hans Baldung Grien:
Bildnis eines jungen Herrn
Johannes Sapidus. 1515
Eine besonders intensive Männerfreundschaft muß zwischen dem Künstler und dem eloquenten Auftraggeber des Portraits bestanden haben. Allein schon die vier ´Schlagzeilen´ am Kopf des Bildes – zwei Distichen, jeweils aus Hexameter und Pentameter bestehend – sind eine Ausnahme innerhalb derzahlreichen Humanistenportraits. Doch welcher Auftraggeber für ein Portrait würde mit einem lateinischen Epigramm seinen Maler, den er doch für sein Werk bezahlt, so poetisch besingen? Eine außergewöhnliche Ausgangslage also.


Trotz dieser herausfordernden Besonderheit hängt das 1515 datierte Gemälde von Hans Baldung Grien in einem der zur Weltspitze zählenden Museen Alter Meister und wird unverändert als Bildnis eines jungen Herren betitelt. Es trägt im Kunsthistorischen Museum, Wien, die Nr. 5684 und gehört schon lange zum Bestand (Öl auf Lindenholz, 63,7 x 47,5 cm). Wie sollte man auch zum Namen des Dargestellten gelangen, denn Humanisten gab es um die Zeit viele?

Um eine Lösung zu finden, kommt daher nur infrage, eine Art Phantombild dieses überdurchschnittlich sprachbegabten Humanisten zu skizzieren, der offenbar kein Kleriker war; seine Garderobe erweckt jedenfalls nicht den Anschein. Nimmt man für den ´jungen Herrn´ ein Alter von 25 Jahren an, gelangt man zum Geburtsjahr um 1490. In den Jahren 1489 bis 1491 sind allerdings eine ganze Reihe Humanisten geboren, von denen man heute noch Kenntnis hat. Alle erreichbaren Personen der Jahrgänge sind also zu überprüfen. Dabei kommen nur solche infrage, die ein Studium absolviert hatten, denn das ist die Mindestvoraussetzung für diesen Fall. Auch kommt ganz offenbar kein Adliger in Betracht, weil der ´Herr´ keine goldene Kette trägt. Ferner kann die Herkunft auf Personen vom Oberrhein eingegrenzt werden, da sich Hans Baldung Grien überwiegend in dieser Landschaft aufgehalten hat. Dieses Gebiet war noch, im Gegensatz zu heute, zu beiden Seiten des Rheins eine sprachliche (alemannische) Einheit. Das geographische Raster läßt daher eine Reihe von Kandidaten ´durchfallen´.

Während heute die Universitätsstädte Basel, Freiburg und Straßburg Kulturstätten repräsentieren, war die Szene um 1500 noch reichhaltiger. Eine namhafte Stadt der Bildung war um 1500 Schlettstadt (heute Séléstat). Die heutige Provinzstadt wurde von den Römern gegründet. Zwei große und qualitätvolle Kirchen, jeweils aus Romanik und Gotik, lassen die frühere Blüte ahnen. Karl der Große feierte 775 dort Weihnachten; später förderten die Hohenstaufen die Stadt: 1153 nahm Kaiser Barbarossa sie unter seinen Schutz. Kaiser Friedrich II. ließ sie ummauern. Ein Rat von 24 Rittern verwaltete lange die Stadt. 1352 wurde er durch den bürgerlichen Rat der Hundert ersetzt. 1441 wurde die dortige Lateinschule reorganisiert d.h. auf ein überdurchschnittliches Niveau gebracht. Man sieht es an den Absolventen. »Aus ihr gingen Jacob Wimpheling, Beatus Rhenanus und der Reformator Straßburgs, Martin Bucer, hervor. Wimpheling, in S. geboren und lange in Heidelberg lebend, machte Straßburg zu einem vorreformatorischen Zentrum. Beatus Rhenanus, ebenfalls aus S., war mit Erasmus von Rotterdam befreundet. Berühmtheit erlangte v. a. seine Bibliothek, vielleicht die bedeutendste Privatbücherei der Zeit; seine 1200 Bände, Manuskripte und Druckwerke gelangten in die 1452 gegründete Städt. Bibliothek« (Florens Deuchler und Jean Wirth S. 190). Die heute so genannte Bibliothèque humaniste verfügt daher heute über einzigartige Bestände: Manuskripte antiker Autoren, merowingische und karolingische Handschriften und Nachlässe der genannten Humanisten sowie viele frühe Straßburger Drucke.

Vor diesem Hintergrund erscheint es plausibel, daß der junge Humanist des Portraits aus dieser Stadt hervorgegangen ist. Es handelt sich bei ihm um den, bei so vielen Geistesgrößen der Zeit etwas in den Hintergrund geratenen Johann Witz, der sich als Humanist Sapidus nannte und 1490 in Schlettstadt geboren wurde. Dort besuchte er die von Crato Hofmann geleitete Lateinschule, die ihn befähigte, mit 16 Jahren sein Studium in Paris aufzunehmen ─ der damals führenden Universität für Theologen in Europa. Als er 1509 als Magister in seine Heimatstadt zurückkehrte, arbeitete er zunächst als Korrektor in der qualitätvollen Druckerei Schürer, bis er 1510 vom Rat der Stadt zum Leiter der Lateinschule berufen wurde. »Nach seiner Wiederkunfft ward er der Schule zu Schlettstadt vorgesetzt, und bemühte sich die guten alten Verfasser [die antiken Autoren] wieder an das Licht zu bringen. Daher auch Thomas Plater [ein früherer Schüler] sich wegen der Unterweisung, so er von ihm empfangen, hertzlich gratulierte« (Zedler). Offenbar war Sapidus geschickt, denn die Schule zog viele Auswärtige an, zumal er das Unterrichtsprogramm sogar auf Griechisch ausweitete. Allerdings empfand sich Sapidus bald unterbezahlt. »Als er einstens wegen schlechter Besoldung sein Amt verlassen wollte, tröstete ihn sein guter Freund Erasmus in einer artigen Epistel, und erhub seinen Stand auf das höchste« (Zedler).

Sapidus zählte zu den weltoffenen Humanisten und trat auch sogleich auf die Seite der Verteidiger von Johann Reuchlin (1454/55─1522), als dieser wegen seiner Übersetzungen aus dem Hebräischen von den Dominikanern als Ketzer verunglimpft wurde. So kommt er auch in dem persiflierenden Rhythmischen Gedicht von Magister Philippus Schlauraff namentlich vor, als sich dessen verkappter Autor, Ulrich von Hutten (1488─1523), in Schlettstadt aufhält:

Auch Sapidus da war
und seine Schülerschar.
Als sie mich züchtigten mit bösem Sinn,
rief ich zur Himmelskönigin.

Der Clou an dem Pamphlet Huttens in den Briefen von Dunkelmännern ist, daß er die Rollen vertauscht d.h. seine Humanistenfreunde die Bösen sind.

In den Jahren 1515─1520 muß Sapidus Wirken erfolgreich gewesen sein, denn es ist von einer »plus grand prospérité« (Meyer) die Rede; die eingeschriebenen Schüler hatten 1517 bereits die Zahl 900 überschritten ─ damals eine überaus bemerkenswerte Anzahl. So ist es nicht verwunderlich, daß er sich zum einen porträtieren und zum anderen 1520 in der Druckerei Schürer seine erste Veröffentlichung drucken lassen konnte: EPIGRAMMATA IOANNIS SAPIDI. Zum Ausgleich neben dem Unterricht waren Epigramme offenbar sein Steckenpferd geworden und zwar in dem von Erasmus propagierten Latein à la Cicero.

Das Distichon, ein Zweizeiler, ist das stilistische Muster der 58 Seiten seiner Publikation. Ein Original des Buches befindet sich übrigens in der Palatina im Vatikan. Zu den aufgereihten Distichen gehören jedoch nicht die 4 Zeilen im Portrait, weil sie von der unmittelbaren Anschauung Gemäldes abhängen. Aber ein Distichon ist darunter, das in gleicher Weise beginnt, wie der Vierzeiler im Bild: TALIS ERAT … und schafft damit die Gewähr, daß tatsächlich Sapidus der Auftraggeber des Porträts ist.

Der volle Wortlaut des Epigramms ist folgender:

TALIS · ERAM · LVSTRIS · OLIM · QVASI · QVINQUE · PERACTIS ·
ARTE · VELUT · MAGNA · PICTA · TABELLA · TENET ·
SIC · ME · BALDVNGVS · DEPINXERAT · ALTER · APELLES ·
VT · VIVVM ·QVI · ME · VIVERIT · ESSE · PVTET ·

So war ich einst, als ich ungefähr fünfundzwanzig Jahre meines Lebens verbracht hatte.
Wie das Bild mit großer Kunst meine Züge festhält,
So hatte mich Baldung, ein zweiter Apelles, gemalt,
Damit der Betrachter glauben könne, ich sei lebendig.

So elegante Distichen zu schreiben, ist nur einem besonders sprachgewandten Menschen möglich, der im Lateinischen völlig sicher ist. Kein Wunder, daß sich Erasmus mit diesem Begabten anfreundete. Sapidus‘ jugendlicher Überschwang, in dem er diese und andere Epigramme schrieb, war jedoch nicht von langer Dauer. Durch seine Studienfreunde erfuhr er von der neuen Lehre Martin Luthers und entwickelte Sympathien für diese Bewegung in der Kirche, die er nicht verborgen hielt. Da aber der Rat der Stadt sich strikt an das Herkömmliche hielt, wurde Sapidus für sein Verhalten abgestraft: Kurzerhand wurde er 1525 als Schulleiter abgesetzt. Das war für den inzwischen Verheirateten eine bittere Erfahrung.

Sapidus suchte in Straßburg Zuflucht und klopfte bei der Druckerei Schürer wieder an. Matthias Schürer war zwar schon 1519 gestorben; die Familienangehörigen führten jedoch den Betrieb weiter und sicherten sein Auskommen als Korrektor. Offenbar hatte Sapidus sich ein kleines Vermögen erarbeiten können, denn eine der wenigen Meldungen aus seinem Leben lautet: »1526 Montag nach Katharina: Der wolgelert Meister Johannes Witz (Sapidus), weilandt Schulmeister zu Schlettstat, hat das [Straßburger] Bürgerrecht kaufft« (Merker).

Da Sapidus Freund Bucer als Reformator im öffentlichen Leben in Straßburg Einfluß hatte, wurde er von den Protestanten 1528 zum Rektor der Lateinschule des Collegium Praedicatorum (Predigerseminar) berufen, das im früheren Dominikaner-Konvent untergebracht wurde. 1538─40 arbeitete er als Professor am neugegründeten Gymnasium, mit dem die Lateinschule fusioniert wurde. Doch da er zunehmend reizbarer wurde, bot der Rat der Stadt ihm 1540 an, den Lehrstuhl für Poetik (professor poeseos) zu übernehmen. Außerdem rückte er 1548 zum Kanonikus der altehrwürdigen Kirche St. Thomas in Straßburg auf. Hier konnte er sich ganz seinen literarischen Neigungen widmen. Dazu gehörten zwei Lobpreisungen des Erasmus und biblische Dramen, die damals in Mode waren. Erasmus nahm die Panegyrik in seine Sammlungen EPISTVLAE ELEGANTES auf.

Unbekannter Künstler:
Johannes Sapidus. Holzschnitt
Sapidus ging offenbar davon aus, daß er eine bekannte Person sei, als er auf seinen Namen bzw. einen Hinweis darauf in seinem Portrait verzichtete. Wenn jedoch noch Zweifel an dieser Identifizierung bestehen sollten, sei auf eine Buchillustration verwiesen. Der Holzschnitt befindet sich in der Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg. Er zeigt einen jüngeren Mann, der aus einem Buch vorträgt, in Sicht von schräg hinten. Der helle Pagenkopf, der die Ohren verdeckt, und das Profil von Sapidus sind deutlich wiederzuerkennen. Dieser Holzschnitt aus A. Pantaleon: Teutscher Nation Heldenbuch von 1578 wird als Portrait des Sapidus bezeichnet. Damit ist das Gemälde von Hans Baldung Grien auf doppelte Weise als Portrait des Johannes Sapidus gesichert.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2015

Literatur
Melchior Adam: Vitae Germanorum Philosophorum. Frankfurt/Main 1615
Briefe von Dunkelmännern. Berlin 1964 S. 237/38
Hans Baldung Grien. Karlsruhe 1959, S. 46 Nr. 32
Miriam U. Chrisman. In: Contemporaries of Erasmus. Toronto/Buffalo/London 1985ff.
Florens Deuchler und Jean Wirth. In: Reclams Kunstführer Frankreich II: Elsaß. Stuttgart 1980
Gustav Knod. In: Allgemeine Deutsche Biographie. Bd. 30. Berlin 1889/1970 S. 369
P. Merker: Der elsässische Humanist Johannes Sapidus. In: Beiträge zur Geistes- und Kulturgeschichte der Oberrheinlande. Frankfurt a. M. 1938 S. 79ff.
Hubert Meyer. In: Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Bd. 7 Lieferung 31. Strasbourg 1998
Pantaleon:Teutscher Nation Heldenbuch. Basel 1567 ff
Johann Heinrich Zedler: Universal-Lexicon. Halle & Leipzig 1732─1757

Bildnachweise
http://de.wikipedia.org/wiki/Hans_Baldung (6.1.2014)
Nouveau dictionnaire de biographie alsacienne. Bd. 7 Strasbourg 1998 S. 3369