Unbekannter Künstler
Marcantonio da Mula

71.04-Mula-240Portraits in der Form von Rundbildern sind besonders durch Hans Holbein d. J. und einige Zeitgenossen bekannt geworden. Insofern ist der Unbekannte von 1566 in der Pinacoteca Comunale diRavenna (Nr. 209 bzw. 472. Öl auf Holz, Rundbild,14 cm Durchmesser. Nr. 209) für Italien ein Sonderfall. Da der ausführende Künstler unbekannt blieb und das Bild in einer regionalen Galerie hängt, blieb es weitgehend unbeachtet. Nur Federico Zeri schrieb es 1985 Lorenzo Lotto zu; doch schloß sich das Museum dieser Aussage verständlicherweise nicht an und beließ es bei dem nichtssagenden Titel Ritratto d’uomo.

Einen Ansatzpunkt für die Aufklärung des Bildinhaltes bietet der Text auf einem gemalten roten Sockel links unten, auf dem auch ein Totenschädel liegt. Darunter steht zu lesen: FACILE CO[N]TEMNIT O[MN]IA & SE SEMPER COGITAT / ESSE MORITVRV[M] A.S.E. LX. (Es ist ein Leichtes, alles zu verachten und bei sich immer zu bedenken, daß man sterben muß). Für einen Mann der Renaissance ist es ungewöhnlich, sich so über den Tod zu äußern, denn gängige Meinung war damals noch, daß man sich immer des Todes bewußt sein sollte, um dadurch klüger zu leben. Allerdings zeigt das Entstehungsdatum an, daß bereits die Zeit des Manierismus begonnen und sich damit die Sichtweise verändert hatte. Demgegenüber ist die Darbietung, eine persönliche Sentenz auf einem Schild oder Stein dem Betrachter darzubringen, noch gute humanistische Tradition. Daraus geht zumindest hervor, daß der Auftraggeber gebildet und offenbar sehr fromm war. Seine linke Hand zeigt auf den Schädel, während die rechte anscheinend ein Kruzifix umfaßt. Unten steht außerdem zu lesen: D[OMI]N[U]S MEVS ET DEVS MEVS.

In der oberen Buchstabenfolge am Schluß des Textes steckt eine Information für den Betrachter. A.S.E. soll offenbar ´anno svae existentiae´ heissen; dadurch ergibt sich aus den letzten beiden Buchstaben, daß es römische Ziffern sind und diese die Zahl 60 repräsentieren. Aus der Datierung und der Zahl 60 geht eine wichtige Angabe für das Bild hervor: Der Dargestellte war im Jahr 1566 60 Jahre alt. Dies wird durch Augenschein bestätigt, soweit das bei dem ungereinigten Gemälde möglich ist.

Leider sind die Prominenten Venedigs bisher nicht lexikalisch zusammengefaßt wie z.B. die von Bologna. So verging beträchtliche Zeit, bis Marcantonio da Mula (1506─1572) in den Blick geriet. Der Nachname könnte mit Mauleselin übersetzt werden. Er war der Zweitgeborene einer offenbar reichen, aber auch etwas verworrenen Familie der Handelsstadt. Doch Marcantonios Vater, der im Dienst der serenissima stand, fand nicht nur einen klassischen Namen für seinen Sohn, sondern ließ ihm auch eine stimmige Erziehung angedeihen, die dem Jungen zudem hervorragende Karrierechancen vermittelte. So erlernte er nicht nur Latein, sondern auch Griechisch und vertiefte sich in die Schriften von Platon und Aristoteles.

Als der Vater im Jahr 1519 zum podestà von Capodistria bestimmt wurde ─ heute Koper (dt. Gafers), dem einzigen Seehafen von Slowenien ─ nahm er seinen Sohn mit, um ihn in die Verwaltungsarbeit einzuführen. Er stellte also die Praxis über die Theorie, denn anschließend begann Marcantonio in Padua Jura zu studieren und dort zu promovieren. Alles deutete auf eine politische Karriere hin. 1531/32 arbeitete er an der venezianischen Münze. Den ersten interessanten politischen Auftrag erhielt er 1534, als er zusammen mit dem namhaften Schriftsteller und späteren Kardinal, Bernardo Navagero (1507─1565), auch er ein Patrizier, Dalmatien zu inspizieren hatte. Daß es zu dieser Personenkombination kam, ist wohl nur durch da Mulas literarisch-rhetorische Begabung zu erklären. Später werden an ihm außerdem sein juristischer Scharfsinn und seine brillante Redeweise gerühmt.

Als 1540 das Osmanische Reich von Venedig geschlagen wurde, wurde da Mula in Zara (heute: Zadar/Kroatien) als Befehlshaber der Stadt eingesetzt ─ keine attraktive Stellung, denn er fand den Ort nach vielen Kriegsjahren in desolatem Zustand vor. Er rief die villani vecchi zurück, die vor den Türken geflohenen italienischstämmigen Bürger. Außerdem mußte er sich um die Sicherung des Gebiets vor türkischen Überfällen kümmern. Doch seine Maßnahmen in den acht Jahren seines Amtes zeitigten Erfolge. Als Anerkennung wurde er bei seiner Rückkehr in den Rat der Zehn berufen. Als solcher war er in seiner dreijährigen Amtszeit zunächst als savio della Terraferma (Experte des venezianischen Festlandes) tätig und 1545/46 als capitano von Brescia. Dabei kamen sowohl fiskalische als auch militärische Aufgaben auf ihn zu. Auch hier bewährte er sich offensichtlich, denn statt des sonst üblichen Personalaustauschs wurde seine Amtszeit mehrfach verlängert, bis er 1551 als Aufseher der Lagune eingesetzt wurde.

Diese Tätigkeit mußte er abbrechen, da er in Vertretung von Domenico Morosini Gesandter am Kaiserhof wurde. Da der Kaiser häufig seine Hofhaltung wechselte, lernte da Mula von 1552─1554 München, Ulm, Straßburg, Köln und Brüssel kennen. Damals waren die Auseinandersetzungen mit Frankreich und die, von der Reformation ausgelösten innerreligiösen Spannungen die vorrangigen Probleme. Offenbart neigte da Mula zu einer Befriedung dieser Spannungen.

Auch diese Phase seiner Karriere verlief offenbar erfolgreich, denn bei seinem Abschied wurde er vom Kaiser zum Ritter geschlagen. In Venedig wartete eine neue Aufgabe auf ihn. Die Universität der Republik Venedig in Padua war reformbedürftig, und da schien Mula auf Grund seiner profunden Bildung besonders geeignet. 1558 jedoch wurde er wieder abberufen und als capitano von Verona eingesetzt. Auch hier durfte er nicht die volle Amtszeit ausschöpfen, sondern wurde als Sonderbotschafter zu König Philipp II. nach Spanien entsandt. Durch den Frieden von Chateau-Cambresis war eine neue Lage entstanden.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2017

Literatur
G. Gullino. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol. 32. Roma 1986
Pinacoteca Comunale di Ravenna. Ravenna 1969 Nr. 98

Bildnachweis
Pinacoteca Comunale di Ravenna. Ravenna 1969 S. 192