Erstveröffentlichung

Antonello da Messina

Ermolao Barbaro

16.00 Antonello Mess- Barbaro 240Dieses zierliche Portrait eines jungen Mannes von Antonello da Messina (ca. 1430─1479) schmückt schon lange die Gemäldegalerie Berlin Nr. 18 (Öl auf Nußbaum, 20,4 x 14,5 cm. 1478). Daher ist es auch mit der niedrigen Bestandsnummer 18 versehen. Selbstverständlich war diese Tafel 2011 auch auf der Ausstellung Gesichter der Renaissance zu sehen. Im Katalog dazu erscheint das Bild sogar als Frontispiz. Sabine Hoffmann hat es ausführlich beschrieben. »Ein Jahr vor dem Tod des Malers entstanden, ist es das letzte und zugleich mit Abstand kleinste Bildnis, das der Sizilianer gemalt hat« (S. 340). Auf die mögliche Identität der dargestellten Person wird im weiteren Text jedoch nicht eingegangen.

Das Porträt teilt das Schicksal vieler Portraits der Zeit, die zwar prominente Personen wiedergeben, bei denen aber vom Porträtisten nicht bedacht wurde, daß die Bilder auch noch nach 500 Jahren existieren könnten und eine bleibende Wertschätzung haben. Diese gilt heute ungebrochen Antonello da Messina, aber nicht dem Dargestellten. Hier wird ähnlich manchem Portrait von Dürer der heutige Betrachter alleingelassen, wenn er auch etwas über den Dargestellten erfahren möchte.

Doch wie könnte das geschehen? Es gibt zu dem Jüngling keine individuellen Hinweise, bei denen die Nachforschung einsetzen könnte. Immerhin hat Ivan Lermolieff (= Giovanni Morelli) das betont schwarze Gewand als venezianisch identifiziert. So bleibt nur der auf der unteren Rahmenleiste angebrachte Wahlspruch als Hinweis übrig. Er lautet: PROSPERANS MODESTVS ESTO INFORTVNATVS VERO PRVDENS. In der gängigen Übersetzung der Gemäldegalerie heißt das: Im Glück sei bescheiden, im Unglück aber klug. Der Unbekannte tut damit zwar einen Teil seines Wesens kund, hält sich aber vollkommen bedeckt. Die Aussage ist kein geflügeltes Wort geworden d.h. sie findet sich in keinem der Zitatenschätze der Renaissance. Auch auf keiner der damals so beliebten Gedenkmünzen kommt der Spruch wieder vor.

In diesem Zusammenhang ist interessant, wo einst dieser Spruch nochmals festgehalten wurde. 24 Jahre nach Entstehung des Portraits wurde diese Sentenz in einem ´nebensächlichen´ Manuskript eines namenlosen Autors im Vatikan niedergeschrieben. Die zitierten Zeilen werden dort 1502 fortgesetzt mit: »Nihil desparare, nulli rei fidere / Quam [?] quod ridiculos sibi homines facit« (nicht verzweifeln, keiner Sache trauen / … was sich scherzhafte Menschen macht). Es ist nicht überliefert, wer der Autor dieser erweiterten Sentenz ist. Publiziert wurde der gesamte Wahlspruch von Rino Avesani 1967 (aus: Ottob. LAT. F.29 v.); er sah sich jedoch nicht in der Lage, den Text einem Urheber zuzuschreiben. So hilft auch diese Erwähnung vorerst nicht weiter, zeigt aber an, daß der Wahlspruch im Vatikan immerhin bekannt war.

Findet man sich mit der Unmöglichkeit einer Identifizierung des Porträts nicht ab, bleibt nur die in der Kriminalistik übliche Methode, ein Personenprofil zu entwickeln, also Kriterien aufzustellen, wie man sich die zu findende Person zu vorzustellen hat. Vom lateinischen Wahlspruch ausgehend ist eine starke humanistische Orientierung Voraussetzung. Aus der Physiognomie läßt sich auf ein Alter von rd. 25 Jahren schliessen d.h. ein Geburtsjahr um 1455 ist wahrscheinlich. Der Jüngling könnte noch Scholar sein. Dazu paßt auch die schwarze Kleidung; sie verweist auf einen Venezianer. Mit einiger Sicherheit stammt der Porträtauftrag von einem Abkömmling einer vermögenden Familie. Von der Ausstattung her kommt aber kein Offizier und auch kein Kaufmann infrage.

Damit scheinen alle verfügbaren Indizien verbraucht; aber vielleicht läßt sich dem Wahlspruch doch etwas mehr abgewinnen. Einen solchen in Latein abzufassen, wo doch im Alltag das volgare dominierte, deutet auf eine Verehrung der Antike, das große Vorbild für die damalige Zeit. Wendet man sich dem Text selbst zu, fällt auf, daß er eine philosophische Aussage aufweist. Es ist von Klugheit die Rede, von Maßhalten, Glück und Unglück. Auch der Physiognomie traut man zu, daß die Person sich über Grundsätzliches Gedanken macht (vgl. Einführung zur Buchausgabe Porträts der Renaissance. 2011) und Prinzipien entwickelt hat, wie sie Wechselfällen im Leben begegnen will.

Damit verdichtet sich die Mutmaßung, in der dargestellten Person einen ambitionierten Venezianer zu sehen, der in die Welt des Geistes eindringen will. Innerhalb der Philosophie läßt sich das Motto deutlich auf die Ethik eingrenzen. Bekanntlich hatten die Humanisten sich insoweit von der Kirche emanzipiert, daß sie sich vorrangig mit den griechischen und römischen Philosophen und deren Interpretation beschäftigten. In der Frührenaissance waren die, auch von der Kirche geschätzten Schriften Platons dominant. Das begann sich in der Zeit der Entstehung des Gemäldes zu ändern d.h. die Schriften des Aristoteles nahmen an Bedeutung zu, mußten aber erst noch erschlossen werden. Ihr erster Übersetzer war der renommierte Historiker Leonardo Bruni (1369/74─1444). Die erste lateinische Ausgabe des Aristoteles von Andrea Torresanus erschien jedoch erst 1483 in Venedig. In Padua gab es innerhalb der Fakultät zeitweilig zwei Lager: Anhänger von Platos Ideenlehre versus Anhänger der naturnahen Auffassung des Aristoteles. Für letzteren trat Agostino Nifo (ca.1470─1538) ein und legte 1508 einen Kommentar zur Physik des Aristoteles vor. Dessen Schriften im griechischen Urtext waren in Italien ab 1453 zugänglich. Doch da sich die Kenntnis der griechischen Sprache auf eine überschaubare Personenzahl reduzierte, kommt hier nur ein Humanist mit dezidierten Kenntnissen des Griechischen infrage.

Am meisten Wahrscheinlichkeit gilt daher dem später berühmt gewordenen Ermolao Barbaro (*1453/54─1493) und zwar von Herkunft wie vom Alter. Auch stammte er aus einer der namhaften Familien vom Rang eines miles (Ritter) Venedigs, die zugleich der regierenden Schicht angehörte. Margaret King (S. 328) bezeichnet ihn als »a humanist of first importance«. Er hat nicht nur nachweislich die Sprache erlernt, sondern war darin auch publizistisch d.h. als Übersetzer mehrerer Schriften von Aristoteles vom Griechischen ins Lateinische tätig, darunter der Nikomachischen Ethik (Nikomachos hieß der Sohn des Aristoteles). Dort steht z. B. in VI, 12 die Sentenz: »Klug kann nur ein guter Mensch sein«. Aristoteles beschreibt vor allem die Eigenschaften des menschlichen Charakters. »Zu der Masse der erhaltenen Schriften des Aristoteles gehört: die sog. Lehrschrift, Pragmatie nach seinem Sprachgebrauch« (Herwig Görgemanns S. 217). So ist auch von dem Notizenstil der Pragmatien die Rede (S. 297), »andererseits sind die von Aristoteles selbst veröffentlichten literarisch geformten Schriften sämtlich verlorengegangen« (S. 284).

Barbaros Wahlspruch könnte durchaus von Aristoteles inspiriert sein, da Aristoteles oft den Mittelweg zwischen den Extremen empfiehlt. In Buch IV der Nikomachischen Ethik ist in dem Abschnitt De Modestia (Über die Milde) eine Stelle zu finden, die einige Vokabeln des Wahlspruchs enthält (wenn auch nicht die gesamte Textvorlage und zwar in der Übersetzung von Samuel Rachel, da die von Ermolao Barbaro nicht greifbar ist): »…in eos verò, quorum mediocris fortuna est, modestum ac moderatum praebere« = in denen wahrhaftig, deren Glück gemäßigt ist, Milde und Besonnenheit zu gewähren« (S. 121). Hier findet sich die Haltung des Aristoteles teilweise wieder, wie sie in dem Wahlspruch Ermolao Barbaros gebündelt enthalten ist.

Ein Originalzitat des Philosophen kommt bei dem Selbstbewußtsein eines Menschen der Renaissance kaum in Betracht. Eher ist anzunehmen, daß Barbaro in seinem Motto eine Quintessenz seines Aristoteles-Studiums ausdrücken wollte. Die Werkausgabe Barbaros stand zur Suche nicht zur Verfügung; ersatzweise wurde die zweisprachige Ausgabe mit der Übersetzung Samuel Rachels eingesetzt und auf die Stichwörter des Wahlspruchs hin abgesucht. Da das Latein weniger Begriffsvarianten enthält als heutige Sprachen, schien diese Lösung vertretbar.

In einem noch erhaltenen Brief schreibt Barabaro z.B.: »Plato in conviviis atque potu, Aristoteles utroque melius« (S. 109). Unter den wichtigsten Aristotelikern Italiens gehörten Bruni, Polizano und Barbaro zu den erstrangigen. Bruni ist 80 Jahre früher geboren; Polizano zwar 1454, aber er war mehr als Übersetzer der Ilias tätig. Allerdings gehörte er zu Barbaros Briefpartnern. Bruni und Poliziano waren jedoch keine Venezianer. Insofern konzentriert sich die Suche auf Ermolao Barbaro, den Aristoteles-Kommentator und Diplomat. Er »besaß eine bedeutende Bibliothek antiker und neuer Literatur in Latein und Griechisch sowie Bücher aus dem Bestand seines [bedeutenden] Großvaters Francesco« (King S. 328). Zeitlich gehörte er zur sog. dritten humanistischen Generation Italiens.

Dieser war Kind des Zaccario Barbaro und der Clara Vendramin, deren Familienpalast am Canal Grande durch den Aufenthalt von Richard Wagner bekannt ist. 1460 erhielt Ermolao von einem Cousin des Vaters, der Bischof in Verona geworden war, eine Einladung nach Verona. Der Bischof ließ den Jungen von dem Kanoniker Matteo Bosso zwei Jahre unterrichten und ihm die Grundlagen von Latein und Griechisch vermitteln. Anschließend bezog der Vater den Sohn in seine eigenen Aktivitäten mit ein: politisch-diplomatische Reisen. Als Diplomat verhandelte er für Venedig z.B. 1462 mit dem Papst in Rom. Diese längeren Aufenthalte nutzte Ermolao Barbaro als Scholar zu Vorlesungen von Pomponio Leto (1428─1498) an der Accademia Romana und Teodoro Gaza (1400─ca.1476), einem Griechen aus Saloniki. »Barbaro besaß eine bedeutende Bibliothek antiker und [damals] neuer Literatur in Latein und Griechisch sowie Bücher aus dem Bestand seines [bedeutenden] Großvaters Francesco« (M. King S. 328).

Im Jahr 1468 bestimmte die serenissima Zaccario Barbaro zum podestà von Verona. Dort erlebte Ermolao den Staatsbesuch von Friedrich III. (1415─1493) mit und wurde nach dem Vortrag einiger seiner poetischen Texte vom Kaiser zum poeta laureatus gekrönt. Anschließend setzte er sein Studium in der zu Venedig gehörenden Universitätsstadt Padua fort und promovierte 1474 an der Artistenfakultät. Es folgte ein Studium beider Rechte, worin er 1477 ebenfalls promovierte. In diesem Jahr wurde von Antonello wohl das Porträt in Venedig begonnen. 1483 wurde Ermolao Barbaro erstaunlich jung in den Senat von Venedig berufen. Dieser entsandte ihn 1486/87 nach Brügge an den burgundischen Hof. Offenbar war dieser Auftrag erfolgreich, denn anschließend wurde ihm das zivile Amt des savio di terraferma (Weiser des venezianischen Festlands) anvertraut. Zusätzlich fungierte er 1489 als Gesandter in Mailand und 1490 beim Papst in Rom. Die erwähnte Notiz des Wahlspruchs im Vatikan ist daher wohl eine Abschrift, kein Originaltext von Barbaro. Aber sein Wahlspruch war offensichtlich dort bekannt.

Was Barbaro dort bewogen hat, auf den Wunsch Papst Innozenz VIII. einzugehen, das ehrenvolle Amt des Patriarchen von Aquileia anzunehmen, bleibt dunkel. Als Juristen hätte ihm jedenfalls der sich daraus ergebende Konflikt bekannt sein müssen: Die serenissima sah darin das Delikt, das Geschenk einer fremden Macht angenommen zu haben. Sie bestrafte ihn durch Ausbürgerung, mit der Folge, daß er Venedig zeitlebens nicht wieder betreten durfte. Aber schon 1493 wurde er ein Opfer der in Rom grassierenden Pestepidemie.

Gleichzeitig erschien in Venedig eines seiner Werke, die Castigationes Plinianae im Druck. Die meisten Werke sind jedoch erst lange nach seinem Tode herausgekommen, so die lateinischen Übersetzungen des Aristoteles, Rhetorik und Ethik (1544). Längst war Ermolao Barbaro unbestritten zur Gruppe der gigantae (King S. 323), der namhaftesten Philologen Italiens (wie Merula und Poliziano) aufgestiegen. Erasmus von Rotterdam zitierte Barbaro oft mit Respekt und Bewunderung.

Kann damit die Frage nach dem Porträtierten als beantwortet angesehen werden, ist die nach der Entstehung des Gemäldes noch nicht ganz geklärt. Schließlich besagt schon der Name des Künstlers, Antonello da Messina, daß er am anderen Ende Italiens zuhause war. Daß er das Bild des jungen Barbaro wie bei Hans Memling vor eine Landschaft setzte, wird allgemein aus der Bekanntschaft Antonellos mit der niederländischen Malerei erklärt (S. Hoffmann). Dabei geht man davon aus, daß er zwar ein Atelier in Messina hatte, aber doch so bedeutend eingeschätzt wurde, daß er im Königreich Neapel, das auch beider Sizilien hieß, zeitweilig auch in der Hauptstadt beschäftigt wurde, wo er Gelegenheit hatte, Werke der Niederländer in Augenschein zu nehmen. »Seine Bedeutung liegt darin, daß er die venezianische Malerei der Frührenaissance entscheidend beeinflußte, indem er sie mit der Technik und den künstlerischen Werten der altniederländischen Ölmalerei bekannt machte« (Robert Darmstaedter).

Tatsächlich hielt sich Antonello da Messina 1475/76 in Venedig und Mailand auf. 1478, im Jahr der Fertigstellung des vorliegenden Portraits, war Antonello jedoch bereits nach Messina zurückgekehrt. Denkbar wäre daher, daß er das Portrait bereits vor seiner Abreise aus Venedig im Wesentlichen vollendet hatte. »Möglicherweise wurde das Bildnis von Messina aus nach Venedig geliefert, oder der Auftraggeber hat es mit in die Lagunenstadt genommen, wofür auch die seit dem 18. Jahrhundert verbürgte venezianische Provenienz spräche« (Sabine Hoffmann S. 340).

  16.01 Antonello Mess 240nebTheodor de Bry: Ermolao Barbaro. ca.1492.
Stich. Herzog-August-Bibliothek,
Wolfenbüttel A 888
Von Ermolao Barbaro gibt es zum Vergleich nur noch einen späten Stich, der ihn ebenfalls in einem ¾ Portrait nach links zeigt. Wenn der nicht posthum, sondern zu Lebzeiten entstanden wäre, gibt er Ermolao Barbaro in seiner Zeit als Patriarch wieder – offensichtlich verdrossen über die Reaktion der serenissima. Die kräftige Nase und die Pagenkopffrisur stimmen mit dem jugendlichen Portrait überein; mehr gibt der Bildvergleich aber nicht her.


© Christoph Wilhelmi 2015

Literatur
Aristoteles: Ethikon Nikomacheion. Übers. Samuel Rachel. Helmstädt 1660
Rino Avesani / Vitalis Blesensis: Quattro miscellanee Medioevali e Umanistiche. Roma 1967 S. 55
Emilio Bigi. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Rom 1965
Robert Darmstaedter: Reclams Künstlerlexikon. Stuttgart 1995
Herwig Görgemanns (Hg.): Klassische Periode II. In: Die griechische Literatur in Text und Darstellung. Stuttgart 1987
Sabine Hoffmann. In: Gesichter der Renaissance. München/Berlin 2011
Margaret King: Venetian Humanism in an age of patrician dominance. Princeton 1986
Ivan Lermolieff (Giovanni Morelli): Die Werke der italienischen Meister. Leipzig 1880
M. J. C. Lowry. In: Contemporaries of Erasmus. Toronto/Buffalo/London 2003
Die Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hg. Peter Mortzfeld. I. München 1986 S.115

Bildnachweise
Gesichter der Renaissance. München 2011. S. 149
Die Porträtsammlung der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. München 2008 Bd. 1 aus: Joh. Theo.de Bry: Bibliotheca Chalcographia. 1650                                                           

Quelle für Avesani/Blesensis  
http://books.google.de/books?id=y8_uJLO9s4gC&pg=PA55&lpg=PA55&dq=prosperans+modestus+esto+infortunatus+vero+prudens&source=bl&ots=S2CxmDyRJw&sig=9bd7HSAVZ1rwOYXvMaCH0oAlPw4&hl=de&sa=X&ei=NEWtT_G8FoLTtAa__KzoAw&ve