Erstveröffentlichung


Unbekannter Künstler

Arnulf van Solbrecq    

71.32-v.Brugge-Solbrecq 240Im Nelson Atkins Museum of Art, Kansas City/Miss.,  hat sich eine kleine Holztafel (Öl auf Eiche 27,7 x 21,1 cm) erhalten, welche das lebensnahe Portrait eines Benediktiner-Abts zeigt. als Halbportrait steht er fast raumfüllend in einem gemalten Bogen wie in einem Kreuzgang. Hinter ihm ist durch ein Bücherregal ein Interieur angedeutet; links bietet sich ein Durchblick auf den Chor eines romanischen Münsters an. Es könnte sich um die Kathedrale von Tournai in Brabant handeln.

Der Abt ist völlig in die schwarze Kutte der Ordenstracht gehüllt, hat vor sich auf dem Sims einen manuductio (Handreichung) aufgeschlagen, der zweispaltig und im Text zweifarbig abgefaßt ist. Seine Haltung ist konzentriert, aber nicht auf den Betrachter, sondern sein Blick geht in die Ferne nach links. Es hat den Anschein, daß er im Begriff ist, seinen Ordensbrüdern eine Vorlesung zu halten bzw. ihnen eine Botschaft zu übermitteln. Die linke Hand ruht mit dem Rücken auf dem Buch, während die Finger nach oben gestreckt sind, als ob sie etwas begreiflich machen wollten. Die rechte Hand wird von einer hochstehenden Seite des Buches fast verdeckt, umgreift aber wie eine Fahnenstange sein Amts- und Ehrenzeichen, einen außerordentlich edlen, goldenen Krummstab. In der detailfreudigen Art des Antoniello da Messina ist über der linken Schulter ein Interieur mit Regal und Lesepult sowie ein aufgeschlagenem Buch zu erkennen

Wer dieses Stück Feinmalerei geschaffen hat, ist leider nicht überliefert. Die Kustoden behelfen sich mit der Bezeichnung Schule von Brugge. Die penible Sorgfalt der Arbeit spricht für eine  Orientierung an Hans Memling (?1494). Das Bildnis wird aber mit 1500/10 eingestuft. Ein Versuch, die dargestellte Person aufzuklären, wurde offenbar nicht unternommen.

Die erwähnte geistige Konzentration des Abtes wäre geeignet, darin ein Idealbild des Mönchtums zu sehen. Blättert man aber in alten Chroniken um 1500, fällt auf, daß in weiten Bereichen der Orden eher Mißstände vorherrschten, zumal die Klöster über umfangreiche Besitztümer verfügten, die zur Sorglosigkeit verleiteten. Außerdem gingen die Klöster als Arbeitgeber mit ihrer Umgebung oft rücksichtslos vor. Nicht von ungefähr ist die lutherische Reformation aus dem Mönchtum entstanden. Überall wurde über Disziplinlosigkeit geklagt; die strengen Klosterregeln standen vielfach nur auf dem Papier.

Dieser Zustand war schon einmal im Hochmittelalter aufgetreten; damals waren die Bettelorden in der Lage, aus sich heraus die Kluniazensische Reform einzuleiten. Doch um 1500 hatten die Mißstände offenbar ein noch größeres Ausmaß angenommen. Die Kirchenoberen sahen das, wagten aber meist nicht, dagegen anzugehen. Eine Ausnahme kam ab 1485 in Frankreich zustande. Da Kardinal Georges d’Amboise (?1510) voranging, der u.a. für König Franz I. in den besetzten Gebieten des westlichen Oberitalien (insbesondere in Mailand) die staatliche Macht ausübte, konnte er geistliche und weltliche Macht koordinieren, während sich in anderen Regionen diese oft im Streit befanden. Sein Verwandter, Jacques d’Amboise, leitete das Kloster Cluny; andere Äbte wie Gui Vigier in Marmoutier oder Gui Jouvenneaux in St. Sulpice in Bourges organisierten die Reformen ab 1501/02 selbst. Die strengen Ordensregeln wurden reaktiviert; ein gravierender Punkt darin war die geforderte Selbstverleugnung. Durch den Theologen und päpstlichen Pronotar Jan Standonck (?1509)
wurde vor allem die soziale Seite betont: eine Hinwendung zu den Armen.

In Mitteleuropa bildete sich der Schwerpunkt der Reformen in Kloster Bursfeld in der Nähe von Minden aus, das auf braunschweigischem Gebiet liegt; es übernahm die Koordination, während die jährlichen Generalkapitel der Benediktiner in Erfurt stattfanden. 1458 wurde die Bursfelder Konstitution von Papst Pius II. bestätigt. Ihr Zusammenschluß nannte sich ebenfalls Bursfelder Konstitution.

»Nicht minder stark, in der Klosterzucht wesentlich besser, dem Einfluß nach aber lange im Hintergrund, war der niederrheinische Kreis, geführt von den vier Kölner Abteien St. Martin, St. Pantaleon, Deutz und Brauweiler; er setzte sich bis an die holländische Küste fort, wo er in Egmond und den Klöstern in Utrecht (St. Paul und Oestbroek) neue Stärkung fand« (W. Ziegler S. 12). Die Bewegung war - aus heutiger Sicht - grenzübergreifend und nahm ihren Ausgang außerhalb der habsburgischen Herrschaft. Der Wille zur Reform ging, wie immer, von einer Minderheit aus; das Übergreifen auf weitere Klöster konnte nur durch die Entsendung von überzeugten Brüdern erfolgen. Abt Matthias Petri schickte z. B. sechs Mönche nach Brugge. Hier im Kloster St. Andreas wurde Heinrich Bodo als Abt gewählt. Er trat insbesondere für die Abstinenz ein.

Immerhin gelang es dieser Bewegung, sich Schritt für Schritt weiter auszubreiten. »Das Bild der BK wäre unvollständig, wollte man nicht auch ihre Schwächen sehen. Der alle Kräfte anspannende Aufbau der Reformkongregation hat in den einzelnen Abteien die notwendige Ruhe zu Bildung und Entfaltung der geistigen Kräfte nur selten (wie in Liesbornund Schönau) aufkommen lassen. Zu sehr war die BK nach außen gerichtet, zu wenig noch im Innern gefestigt.  So ist es für die BK geradezu typisch, daß ihre Klöster keine größerengeistigen und wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen haben. So ist es für die BKgeradezu typisch, daß ihre Klöster keine größeren geistigen und wissenschaftlichen Leistungen aufzuweisen haben« (W. Ziegler S.12/13).  

Mit diesem kirchengeschichtlichen Wissen wird das - anscheinend aus der Zeit gefallene - Abt-Portrait sprechender. Offenbar handelt es sich bei dem noch jugendlichen Abt um eine 25-30jährige Person, der sich nicht mit dem Bewahren zufrieden geben will, sondern offensiv missionierte und in seinen Klöstern strenge Observanz praktizierte. Es geht ihm um die Reorganisation der alten Kirche (im Hintergrund des Portraits) und die Regelkonformität,nicht um Zerstörung, wie sie Luther vorgeworfen wurde. Seine Insignien sprechen dafür. Im Gegensatz zu Luther und seinen Mitstreitern wird nicht der Versuch gemacht bzw. im Bild angedeutet, neue Formen des Lebens in der Kirche zu finden. Alles ist wieder wie früher, auch in der Architektur des Bildes. Zwar soll es Reformen geben, aber ganz im Sinne der früheren Kirchenzucht - keine Reformation. An den Machtverhältnissen von früher durfte nicht gerüttelt werden. Eine theologische Erneuerung fand nicht statt; die grundlegenden Vorschriften sollten nur konsequenter verwirklicht werden. Der Abt ist und bleibt unbestrittener Zuchtmeister. Zwar sind einige Namen von Äbten überliefert, aber da für Klosterbrüder Individualität kein Ziel war, sondern Unterordnung in der Gemeinschaft, haben diese Personen auch fast kein ´Nachleben´ in Chroniken (resp. den biographischen Nachschlagewerken).

Unter diesen Äbten ragte jedoch einer als besonders aktiv heraus: Arnulf van Solbrecq, der in Ath geboren wurde; der Zeitpunkt ist nicht aufgezeichnet worden. Er trat in seiner Jugend in die Benediktinerabtei Tournai ein. 1483 wurde er als Prior in Saint-Armand eingesetzt (in derNähe von Compiègne).Unter seiner Leitung wurde das Kloster reformerisch aktiv. 1501 wurde Solbrecq  zum Abt des Klosters Gembloux bestimmt. Mit 11 Mönchen von dort übernahm er das Kloster Jardinet. Auch dort installierte er die Bursfelder  Konstitution. Solbrecq schlug den gleichen Weg in Lobbes ein und St. Martin-de-Tournai. Aber offenbar hatte er sich dabei zusehr verausgabt, denn er starb dort 1511.

Es stellt sich nun die Frage, wann das Portrait von Solbrecq in Auftrag gegeben wurde. Denkbar ist, daß es von der Gemeinschaft bestellt wurde, um ein Erinnerungsbild ihres Vorkämpfers zu haben. Demnach wäre es geringfügig später entstanden, als bisherangenommen wurde. Daß er bei Lebzeiten ein Portrait von sich anfertigen ließ, erscheint vor dem Hintergrund der Reorganisation des Ordens unwahrscheinlich. Der leider unbekannte Künstler muß mit Solbrecq sehr vertraut gewesen sein, um sein Erscheinungsbild derart sprechend wiederzugeben. Vom Alter her käme evtl. Jean Bellegambe (ca.1470-ca.1534) infrage, zumal die äußerst präzise Durchführung ihm zuzutrauen wäre.

(c)  Christoph Wilhelmi Stuttgart 2019

Literatur
U. Berliére. In: Biografie Nationale de Belgique. Vol. XXIII. Bruxelles 1921-24
Burton Danbar: German and Netherlandish Paintings 1450-1600. Kansas City 2005
Walter Ziegler: Die Bursfelder Kongregation in der Reformationszeit. Münster 1968
  In: Beiträge zur Geschichte des Alten Mönchtums und des Benediktinerordens. Heft 27

Bildnachweis
Burton Danbar: German and Netherlandish Paintings 1450-1600. Kansas City 2005 S. 165