Erstveröffentlichung

Hans Memling

Marguerite de Raveschoot

47.02-Memling-Frau 240Im Sint-Janshospitaal, der Sammlung des Memlingmuseums in Brügge, hat sich als Nr. OSJ 174.I von der Hand des Hans Memling (1433/40─1494) eine Tafel von 1480 erhalten ─ ein besonders edles und zugleich geheimnisvolles Portrait. Mangels Kenntnis der Person wird es als Bildnis einer jungen Frau bezeichnet (Öl auf Eiche 46,5 x 35,2 cm einschließlich Originalrahmen). Diese Titelgebung zeigt die Indifferenz an, mit der das Werk beurteilt wird. Hilde Lobelle-Caluwé vermeidet dementsprechend in Memling und seine Zeit (S. 67), auf die porträtierte Person einzugehen.

Manche kommen jedoch zu einer ganz anderen Bezeichnung, denn links oben auf dem durchgehend schwarzen Hintergrund befindet sich ein cartiglio; der Text darauf lautet: SIBYLLA SAMBETHA QUAE EST PERSICA / AN: ANTE / CHRIST: NAT: 2040. Demnach würde es sich hier um ein Idealbild der persischen Sibylle, einer mythologischen Figur, handeln, wie es auch einen ganzen Zyklus von idealen Sibyllenportraits von der Hand des Ludger tom Ring d. Ä. (1496─1547) gibt, der um 1538 für die Kathedrale Sankt Paulus in Münster/Westfalen geschaffen wurde. Till-Holger Borchert (S. 167) meint: » im späten 16. Jahrhundert war der Name der jungen Frau bereits in Vergessenheit geraten« und deswegen sei das Portrait damals umgewidmet worden. Die Ansichten über die Einstufung des Gemäldes gehen jedenfalls auseinander; strittig ist, ob es sich um das Portrait einer damals realen Person handelt, welche ein faible für die persische Sibylle hatte, oder um eine metaphorische Darstellung. In diesem Zusammenhang wird die Schrifttafel als nachträgliche Überarbeitung des Bildes ausgewiesen.

Auf dem alten Rahmen ist die Datierung 1480 oben mittig aufgemalt. Dieser ist auf besondere Weise geschmückt durch ein gewelltes Schriftband, dessen Text lautet: ECCE BESTIA CONCULCABERIS, GIGNETUR DNS IN ORBEM TERRARUM / ET GREMIU VIRGINIS ERIT SALUS GENTIUM, INVISIBILE VERBU PALPABITUR. Übersetzt ergibt sich:Siehe das ist die verachtete Bestie, welche der Herr erzeugte für die Erde / und für den Schoß der Jungfrau wird sie das Heil der Völker sein, unsichtbar, mit Worten umschmeichelt. Das Schriftband läuft etwas manieristisch in den Winkel des Rahmens aus und flattert am Ende noch aufwärts.

In der griechischen Antike wurden die Sibyllen als Medium Apollons aufgefaßt, in dessen Auftrag sie weissagten. Von Augustus wurden die gesammelten Orakelsprüche im Apollontempel auf den Palatin archiviert. In der Übergangszeit zwischen Mittelalter und Neuzeit wurden im Zuge des Humanismus auch viele Bücher in Klosterbüchereien wiederentdeckt, denen man aus religiösen Gründen vordem kaum Bedeutung zumaß, weil sie als theologisch abweichlerisch belastet erschienen. Andererseits kamen immer wieder endzeitliche Vorstellungen auf. Dazu gehörten auch Orakelsprüche aus der Frühzeit Roms d.h. vor der Verbreitung des Christentums, als Frauen mit prophetischer Gabe Aussagen machten bzw. Träume von Senatoren deuteten, welche z.B. den römischen Herrschern in Krisensituationen verschlüsselte Hinweise für die Zukunft liefern sollten. Doch die sibyllinischen Bücher gingen 83 vor Christus beim Brand des Jupitertempels verloren. So beschränkte sich J. E. Cirlot (S. 325) auf den Satz: »Sybil ─ a figure of antiquity, which reappears in mediaeval literature and iconography, symbolizing the intuiting of higher truths and prophetic power«. Das Lexicon Iconographicum listet immerhin 42 Bildnismedaillen von Sibyllen auf, allerdings ohne sie namentlich zu unterscheiden. Andererseits kommen sie in der Enzyklopädie Das Wissen der Griechen (München 2000) überhaupt nicht vor. Es gibt aber noch eine apokryphe jüdisch-christliche Anthologie, die Oracula Sibyllina (1470 als Blockbuch erschienen), nach griechisch-römischem Vorbild. Durch diese stieg die Zahl der Sibyllen auf 12 bis 13. Dieses Werk löste anscheinend eine Wiederentdeckung der Sibyllen aus. Nur eine halbe Generation nach Memling gab Albrecht Dürer 1498 seine Folge von 15 großformatigen Holzschnitten zur Apokalypse heraus.

Führten diese Gestalten vorher eine kulturelle Randexistenz, wurden sie seit 1510 außerordentlich popularisiert durch Michelangelos figurenreiche Deckenausmalung der Sixtinischen Kapelle im Vatikan. Dort kommen allerdings nur fünf der zwölf Sibyllen vor, die in den Außenbahnen des Frescos mit Propheten abwechseln. Damit wurden sie aber auf den gleichen Rang wie die Propheten gehoben. Dafür hatte der Kirchenvater Augustinus die Begründung geliefert. Bei Michelangelo kommt in der Reihenfolge als erste die persische Sibylle vor, welche in dem cartiglio genannt ist, und zwar als alte Frau mit Lampe und Schlange zu ihren Füßen. Dadurch wird deutlich, wie unscharf noch die Ikonographie der Sibyllen ausgebildet war; für die Künstler gab es damals offenbar keinen festgeschriebenen Kanon.

Daß auf dem hier diskutierten Gemälde der Hinweis auf die persische Sibylle vorkommt, läßt doch vermuten, daß es sich bei dem Portrait um eine zeitgenössische gebildete Frau handelte, welche sich für futurologische bzw. religionshistorische Thematik interessierte. Eine solche war Marguerite de Raveschoot, die aus der angesehenen Familie der Raveschoot/Ravescot stammte, welche als Humanisten und Drucker über mehrere Generationen erfolgreich waren. Ihre Eltern waren Jacques de Raveschoot und Josine Villain. Über die Tochter wird nur berichtet, daß sie Josse van Ghistele heiratete, der 1446 in Gent geboren wurde. Er war von Haus aus adlig und zwar seigneur d’Axel, de Moere, de Maelstede etc., dazu vermögend. Seine Vorfahren hatten schon Karl dem Kühnen gedient und im Herzogtum Burgund angesehene Stellungen erreicht. Sein Vater ließ seinen Sohn bei Hofe erziehen, denn er war als bailli d.h. Steuereinnehmer von Gent eingesetzt worden. Nach der Schlacht von Saint-Trond schlug Karl der Kühne Josse van Ghistele zum Ritter. Im Entstehungsjahr des Frauenportraits rückte er in die Position seines Vaters auf. Aber schon vorher konnte er es sich leisten, große Bildungsreisen zu unternehmen. Diese galten vielen Regionen, aber vor allem auch dem Vorderen Orient und Persien. Mit Sinn für Literatur hatte er die Romanze von Floire et Blancheflor, um 1200 entstanden, gelesen und war davon fasziniert. Vergleichsweise früh machte er unter Begleitung eines Kaplans, Ambroise Zeebout, eine Asienreise. Sie verfaßten darüber einen Reisebericht.

Von Venedig ausfahrend schlossen sich zahlreiche weitere Reisen an, die hier nicht alle erwähnt werden können. Dabei nutzten sie als Stützpunkte die fondigos der Venezianer und Türken. Bemerkenswert jedoch ist, daß van Ghistele auch die Ruinen des ägyptischen Theben und Äthiopien besuchte sowie die arabischen Gebiete am Golf. Er suchte dabei das Sinai-Kloster und die heiligen Stätten von Mekka auf. Danach steuerte er Persien an mit Täbris und anderen namhaften Orten. Heimgekehrt nannte man ihn bewundernd le grand voyageur.

Ganz offenbar war Marguerite de Raveschoot nicht nur wissbegierig, sondern gleichfalls vom Orient fasziniert. Es ist wohl ausgeschlossen, daß sie ihren Mann auf Reisen begleitet hat; aber anscheinend nahm sie lebhaften Anteil daran und ermunterte ihn zu immer weiteren Unternehmungen. Offenbar war sie an der Erkundung der religiös-mythologischen Welt des Orients brennend interessiert. So erscheint es denkbar, daß sie sich als eine Art Reinkarnation der persischen Sibylle empfand.

Außerdem berichtet J. Stecher davon, daß van Ghistele bei einigen seiner Reisen Spuren des Propheten Johannes, des Autors der Offenbarung bzw. Johannesapokalypse, zu finden hoffte, der zwischen 90 und 95 nach Chr. auf der felsigen Insel Patmos lebte und dort Erscheinungen hatte, die er notierte. An ihn erging die göttliche Weisung: »Schreibe, was du gesehen hast, und was da ist und was geschehen soll darnach« (Vers 1,19). Im Zuge der kaiserlichen Christenverfolgung war Johannes dorthin verbannt und wandte sich mit seinem Text an die sieben christlichen Gemeinden in Kleinasien. Seinen Text hatte er als Trost- und Mahnbuch gedacht; dieses übte später auf alle chiliastischen Strömungen des Christentums einen großen Einfluß aus. Aus diesem Blickwinkel kann angenommen werden, daß Marguerite de Raveschoot einem derart orientierten Kreis in den Niederlanden angehörte. Daß sie bei ihrem Reichtum vergleichsweise sparsam schwarz-weiß gekleidet ist und einen schlichten und gestutzen hennin trug, kann dafür sprechen.

Josse van Ghistelle konnte ihr von den ägäischen Inseln wohl keine Funde bringen. Johannes von Patmos bzw. prétre Jean ist daher auch eine unerforschte Person geblieben. Erst im Sommer 1485 ging van Ghistelle wieder in Antwerpen an Land. Er wohnte auf seinem Schloß Zuyddorp und redigierte dort mit Ambroise Zeebout seinen Bericht, den er in acht Bücher aufteilte. Diese sind für die Kulturgeschichte sehr aufschlußreich. Sie erschienen aber erst 1557 in Gent bei Henric van der Keere und wurden 1998 neu ediert. Allerdings verfügt keine Bibliothek in Deutschland über ein Exemplar.

Leider bleibt den Heutigen der Zugang zur Lebensgeschichte von Frauen der Renaissance wegen mangelnder Überlieferung meistenteils verschlossen. So war die Diskrepanz zwischen individuellem Portrait und dem aufgemalten Titel der persischen Sibylle (SIBYLLA SAMBETHA) nur auf dem Umweg über die Reiseerlebnisse ihres Mannes aufzuschlüsseln und zu überbrücken.

© Christoph Wilhelmi Stuttgart 2019

Literatur
Till-Holger Borchert: Hans Memlings Portraits. Stuttgart 2005
J. E. Cirlot: A Dictionary of Symbols. London 1962
Lexicon Iconographicum Mythologiae Classicae. Vol VII Teil 2. Zürich/München 1994
Maximilian P. H. Martens (Hg.): Memling und seine Zeit. Stuttgart 1998
Ambroise Zeebout, Joos van Ghistele, R. Gaspar: Voyage van Mher Joos van Ghistele. Hilversum 1998

Bildnachweis
Maximilian P. H. Martens (Hg.):.Hans Memling und seine Zeit. Brügge und die Renaissance. Stuttgart 1998 S. 74