Erstveröffentlichung

Hans Memling

Antonius Clava

47.01-Memling-Clava 240Die Portraits des deutschstämmigen Flamen Hans Memling (1433/40 Seligenstadt─1494 Brügge) stehen in Gestus und Qualität seinem Lehrer Roger van der Weyden (ca. 1400 – 1464) kaum nach. Bedauerlich ist nur, daß in mehreren Fällen die Kenntnis verloren gegangen ist, welche Personen sie jeweils darstellen.

So hängt in The Art Institute of Chicago das Gemälde Portrait of a man in prayer (Nr. 1953.467. Öl auf Holz 35,6 x 27 cm bzw. 34,5 x 26,8 cm) ein Diptychon Memlings im originalen Rahmen (41,3 x 33,3 cm) von ca. 1485. Durch Stilvergleich haben Kunsthistoriker das Doppelbild auf diesen Zeitraum datiert. Es zeigt links eine Madonna, welche dem Jesuskind einen Apfel reicht, vor einer Fensteröffnung links mit einem Ausblick aufs flache Land. Da es sich um ein Devotions-Diptychon handelt, wird auf der rechten Tafel, die Fensteröffnung fortsetzend, ein junger Mann in Anbetung der Madonna gezeigt. Vor sich hat er eine Bibel bzw. ein offenes Gebetbuch. SJ (Susan Frances Jones) meint, auf der aufgeschlagenen Doppelseite »Domine labia mea aperies« (Herr, öffne meine Lippen) erkennen zu können. Hinter sich hat der junge Mann eine Vase, aus der rote Nelken ragen. Von dem Dargestellten ist nur bekannt, daß er den Vornamen Anton(ius) trägt, weil sich auf der Rückseite der Tafel eine Darstellung seines Namensheiligen, des Hl. Antonius von Padua befindet. Der Mann im Alter von ca. 20 Jahren hat schwarze Haare bis auf die Schultern und trägt eine dunkle Jacke, welche im Brustausschnitt durch vier dunkle Bänder quer zusammengehalten wird.

Von jeher fiel auf, daß Memling einen ganz ähnlichen Typus eines vornehmen jungen Mannes (Öl auf Eiche, 29,2 x 22,5 cm, Museo Thyssen-Bornemisza, Madrid Nr. 1938.1) gemalt hat, ebenfalls in Bethaltung vor einer Fensteröffnung oben rechts und in ähnlicher Garderobe. Diesmal ist der dunkle Pelzumhang, einer Weste ähnlich, etwas weiter geöffnet und über dem plissierten Hemd wieder mit vier Kordeln bzw. vier Goldschnüren (T.-H. Borchert) quer zusammengehalten. Neu ist an der Befestigung, daß jede Kordel in der Mitte einen Knoten bildet.

Diese Art der Befestigung im Portrait deutet auf sog. Liebesknoten hin (vgl. Beitrag Bartolomeo Veneto: Charles de Bourbon). Es ist mit Sicherheit anzunehmen, daß diese jüngere Tafel als Hochzeitsbild eines Paares gedacht war und Bestandteil eines Triptychons ist. Angelica Dülberg (S. 260) hat 1990 schon darauf hingewiesen: »Das Männerbildnis war aller Wahrscheinlichkeit nach ursprünglich der linke Flügel eines Triptychons, nicht der eines Diptychons, wie allgemein in der Literatur behauptet wird. Aufgrund der Bethaltung nach rechts nimmt es heraldisch die bedeutendere rechte Seite ein, während die zu ergänzende Madonnendarstellung auf der unbedeutenderen linken Seite ihren Platz gehabt hätte. Bei Devotions-Diptychen gebührt nachweislich jedoch der Mariendarstellung der wichtigere Platz auf der rechten Seite«.

Bei dem isoliert erhaltenen Brustbild handelt es sich um das besterhaltene der Memling-Portraits. Seine Besonderheit ist die rückseitige Bemalung der Tafel, die einen, auf einem Orientteppich platzierten spanischen (?) Majolika-Krug zeigt, in der sich Akelei, Iris und Schwertlilie befinden. Deswegen ist das Werk im Museum auch so aufgestellt, daß beide Seiten für den Betrachter sichtbar werden. Durch Scharniere konnten die zusammenhängenden Tafeln früher ähnlich den Klappaltären gewandelt werden. Bedauerlich ist, daß die fehlenden beiden Tafeln bisher nicht wieder auftauchten und wohl als verloren anzusehen sind. D. de Vos hat aus der dargestellten Person und ihren Details geschlossen, daß der junge Mann ein Italiener sei, dessen Beruf der Teppichhandel sei. Benennen konnte er die Person jedoch nicht.

Trotz der stilistischen Verwandtschaft der beiden Beter ist anscheinend bisher nicht der Gedanke verfolgt worden, daß es sich wegen der Ähnlichkeit der beiden um ein und dieselbe Person handeln könnte, nur mit dem Abstand von einigen Jahren gemalt. Dafür spricht, daß der nach rechts Blickende der beiden einen gereifteren Eindruck macht, etwas entschlossener wirkt, während das frühere Stadium einen unbestimmten Ausdruck wiedergibt.

Bei der Ortsfestigkeit Memlings liegt es nahe, nach einer Person Ausschau zu halten, die aus Memlings Umfeld, der Bürgerschaft von Brügge, stammt. Der Ausblick ins Flachland in beiden Fällen spricht für die küstennahe Niederung, in der Brügge liegt. Diese war damals »noch unbestritten Hauptumschlagplatz im Norden« und galt als ´Venedig des Nordens´.

Das Diptychon ist zweifellos aus Dankbarkeit für eine Hilfe der Madonna in Auftrag gegeben worden. Dies unterstreicht ein konvexer Spiegel, wie man ihn von Jan van Eycks Arnolfini-Hochzeit (1434 in Brügge entstanden) her kennt. Er hängt an der Wand links neben der Madonna. Darin sind zwei Kinderköpfe im Halbschatten angedeutet. Von Till-Holger Borchert (S. 256f) wurden die beiden Köpfe als verstorbene Kinder des Mannes beschrieben. Doch setzt man für den Porträtierten ein Alter von 20, maximal 25 Jahren an, erscheinen die fast schon Jugendlichen als Kinder des jungen Mannes unrealistisch. Viel näher liegt daher der Gedanke, daß der junge Mann das Diptychon als Dank an die Madonna für sein Überleben in Auftrag gegeben hat, während seine jüngeren Geschwister durch Seuche oder Infektionskrankheiten den Tod fanden, er möglicherweise der Alleinerbe der Familie übrig blieb, zumal auf eine Mutter der Kinder kein Hinweis auftaucht.

So sollte nach einem vermögenden Bürger Brügges Ausschau gehalten werden, der weder von Adel war, noch ein Kleriker. Bisher wurde vom Orientteppich im rückseitigen Stilleben auf einen entsprechenden Beruf des jungen Mannes geschlossen. Bei der heutigen Spezialisierung mag ein solcher Schluß naheliegen. Aber die damaligen Kaufleute handelten mit allem, was sich bot, und waren nicht auf einen Artikel festgelegt, wie Lina Jardine berichtet. Den Teppich so herzuzeigen, entspricht viel eher dem Denken eines Besitzbürgers, der zeigt, daß er sich teure Importware leisten kann. So kam auch das Sich-Porträtieren-Lassen nur für Begüterte und Einflußreiche infrage.

Um über eine Person um 1500 etwas zu erfahren, ist man auf ältere Nachschlagewerke angewiesen. In diesem Sinne ´überlebt´ haben vor allem diejenigen, welche durch ihre Herrschaft oder durch ihre Publikationen im kollektiven Gedächtnis geblieben sind. Infrage kommt ein Mann der Oberschicht Brügges, der den Vornamen Anton(ius) führt, wahrscheinlich ein Akademiker, wie aus dem lateinisch betexteten Buch hervorgeht. Doch wie findet man eine Person dieses Typus ohne Melderegister heraus? Hier kommt uns zustatten, daß der Kreis von Personen, die mit dem international renommierten Gelehrten Erasmus von Rotterdam brieflich in Verbindung standen, in seiner enormen Verzweigtheit historisch erforscht ist. Erasmus Briefe waren schon zu seinen Lebzeiten als Autographen und Dokumente geschätzt und blieben so über Jahrhunderte hinweg verfügbar.

In dieser Korrespondenz läßt sich mit dem Vornamen Antonius bzw. Anteunis ein Bürger Brügges nachweisen, dessen latinisierter Familienname Clava hieß (niederländisch Clave bzw. Colve). In Latein bedeutet Clava sowohl Knüppel, als auch geheime Depesche; Clava selbst hat wohl bei seiner Schreibweise letzteres im Auge gehabt. Die Identifizierung erschwert, daß für diesen Mann archivalisch kein Geburtsjahr festgehalten wurde. Aus seiner Immatrikulierung in Leuven im Jahr 1479 jedoch läßt sich schließen, daß er etwa 1460 in Brügge geboren wurde. Er studierte Jura und muß durch seine Gutachten aufgefallen sein, denn 1487 stellte ihn die Stadtverwaltung von Brügge als Rechtskonsulent ein – für die europäische Handelsmetropole, die Brügge geworden war, ein sehr verantwortungsvoller Posten. Es läßt sich denken, daß dieser berufliche Aufstieg den offenbar frommen Mann zur Auftragsvergabe des Diptychons veranlaßte. Die wäre demnach auf 1487/88 anzusetzen – ein Datum, das mit der kunsthistorischen Datierung harmoniert.

Clavas Leistung muß so herausragend gewesen sein, daß ihm ab 1493 diese Funktion auch von der damaligen Hauptstadt Gent (1500 wurde dort der spätere Kaiser Karl V. geboren) übertragen wurde. Noch vor der Jahrhundertwende hatte Clava geheiratet und zwar Catharina Boreel. Sie stammt aus einer der altadligen Familien der Niederlande und hatten über viele Generationen in Flandern gesiedelt. Bedauerlicherweise ist weder das Datum, noch Näheres zur Person überliefert. Doch der auf dem späteren Portrait Dargestellte ist höchstens 30 Jahre alt d.h. er hätte wohl spätestens 1490 eine Familie gegründet. Dieses Datum hatten die Kunsthistoriker bislang schon für das Portrait angesetzt.

Der offenbar besonnene und in seinem Handeln gewissenhafte Jurist stieg immer weiter auf. 1514 wurde er für das damalige Parlament, den Raad van Vlanderen, nominiert, dem einflußreichen Gremium, das den in Brügge geborenen König Philipp den Schönen (1478─1506) teils beratend, teils aus Landesinteressen kritisierend zur Seite stand. Nach dem Ausscheiden des Parlamentariers Bartholomæus van Massemen rückte Clava nach. Vordem schon war er nicht nur Bürger, sondern auch Elderman (im Ältestenrat) von Gent geworden. Sein Rat blieb offenbar weiterhin gefragt. Schon ab 1503 war Clava mit Erasmus von Rotterdam bekannt; dieser schenkte ihm eine 1502 in Venedig erschienene Herodot-Ausgabe des Levinus Ammonius. Im den Jahren 1514 und 1517 logierte Erasmus in Clavas herrschaftlichem Haus in Gent. Um sich hatte Clava einen humanistischen Kreis gebildet, zu dem der Kanzler von Burgund, Jean de Schuvage, Lodewijk van Praet, Petrus Aegidius (Pieter Gillis) in Antwerpen und andere gehörten. Clava war ein eifriger Sammler von Büchern und lebenslang wißbegierig.

Die Zeit des Humanismus imponiert uns wegen ihrer zahlreichen Kapazitäten auf allen Wissensgebieten, vor allem aber wegen der Vielseitigkeit ihrer Vertreter. Dies traf offenbar auch auf Clava zu, denn der Jurist beherrschte nicht nur das dafür erforderliche Latein, wie das Buch vor ihm auf dem Diptychon beweist, sondern auch Griechisch. Da ihm Erasmus eine Herodot-Ausgabe übergab, muß er die Sprache aus persönlichem Antrieb erlernt haben. Nach Robert de Keysere (1532), einem Lateinlehrer und Verleger in Gent, war Clava »begierig, sein Griechisch zu vervollkommnen«. Es muß ihm gelungen sein, wie sich aus der Tatsache rückschließen läßt, daß der europaweite Exponent der Altphilologie um die Zeit, Erasmus von Rotterdam, aus Anlaß von Clavas Tod am 31.5.1529, einen Nachruf (für das Epitaph in der Sint-Baafskerk in Gent) verfaßte. Es lautet in der Originalfassung, die dem Brief Nr. 2260 des Erasmus an Pieter Gilles beigefügt war:

EPITAPHIUM ANTONII CLAVAE SENATORIS GANDAVENSIS

Januar 1530
Quis hic quiescis? Clava cognomen mihi est,
Antonius nomen. Quid audio miser?
Itane occidisti, lux senatus Gandici
Et literarum dulce praesidium ac decus?
Vixi satis. Nam lustra quatuordecim
Peregeram. Tibi quidem satis diu,
Sed literis et patriae parum diu,
O coelites, quur talibus saltem viris
Non est perhennis addita immortalitas?
Quod restat unum, Clava, tristi carmine
Et lachrymis moesti parentamus tibi.

Epitaph des Antonius Clava, Senator in Gent

Wer bist du, der du hier ruhst?
Mein Nachname ist Clava, mein Vornamen Antonius.
Was höre ich da, ich unglücklicher? So bist du denn gestorben,
[du] Leuchte des Stadtrates von Gent, [du] Schutz und
beglückende Zierde der Wissenschaft?
Ich habe [lange] genug gelebt, denn ich habe siebzig Jahre
vollendet.
Für dich ja lange genug, aber für die Wissenschaft und die Heimat[stadt]
nicht lange genug. Ihr Himmlischen, warum ist nicht
wenigstens solchen Männern ewige Unsterblichkeit vergönnt?
Was als einziges [uns] noch übrig bleibt, Clava:
Mit diesem Trauergedicht und unter Tränen erweisen wir
traurig dir einen letzten Dienst.

Übersetzung Dirk Kottke

In einem Brief an den Humanisten Pieter Gillis (ca.1486─1536) drückt Erasmus ebenfalls seinen Schmerz über den Verlust des hochgebildeten Freundes aus: »Wie glänzend unterstützte er die Förderer der Wissenschaft. Schon von Geburt an großartig [d.h. sehr begabt] hatte er das Griechische so [gut] gelernt, daß er besser als ich selbst auch jene detaillierten Regeln der griechischen Grammatik beherrschte«.

© Christoph Wilhelmi Stuttgart 2019

Literatur
Till-Holger Borchert: Hans Memling Portraits. Stuttgart 2005
Angelika Dülberg: Privatportraits. Berlin 1990
Lina Jardine: Der Glanz der Renaissance. München 1999
Marcel A. Nauwelærts u.a. In: Contemporaries of Erasmus. Toronto/Buffalo/London 2003
Marcel A. Nauwelærts. In: Nationaal Biografisch Woordenboek. Vol. VII Brussel 1974
Northern European and Spanish Paintings before 1600 in the Art Institute of Chicago.
Hg. Martha Wolff. New Haven/London 2008
C. Reedijk: The Poems of Desiderius Erasmus. Leiden 1956 (Epitaph für Clava, S. 348/349)
D. de Vos: Hans Memling. Das Gesamtwerk. Stuttgart 1994

Bildnachweis
Northern European and Spanish Paintings before 1600 in the Art Institute of Chicago.
Hg. Martha Wolff. New Haven/London 2008 S. 253