Erstveröffentlichung

Lavinia Fontana (?)

Giulio Cesare Aranzio

71.24-Fontana-Aranzio 240Die Walters Art Gallery in Baltimore/USA verfügt als Nr. 37.1106 seit 1902 über ein Portrait of a Physician (Öl auf Lw. 119 x 88,9 cm), das in mehrfacher Hinsicht ungeklärt ist: Der Name des Dargestellten war lange unbekannt und wird vom Museum neuerdings als Gerolamo Mercuriale (1530─1606) angegeben, obwohl wikipedia für diesen Arzt ein Portrait mit ganz anderer Physiognomie verfügbar hat. Bedauerlicherweise wird bei wikipedia weder Urheber noch Standort des Portraits genannt, so daß sich der Widerspruch vorerst nicht aufklären läßt. Die Datierung des Bildes wurde seinerzeit auf Grund der damaligen spanischen Mode auf ca. 1585 angesetzt (neuerdings auf 1588/89). Das Museum bezeichnete das Werk als venezianisch und neuerdings als von der Hand der Künstlerin Lavinia Fontana (1552─1614).

Der unbekannte Dargestellte weist etwas manieriert mit der Linken auf ein aufgeschlagenes Buch im Folioformat, das ein seltsames Motiv als Illustration aufweist: ein menschliches Skelett, nachdenklich an einem Pult; es faßt nach einem menschlichen Schädel auf der Platte. Die Abbildung läßt sofort den Schluß zu, daß der Porträtierte ein Anatom sein muß. G. Mercuriale jedoch war sozusagen Allgemeinarzt. Er befaßte sich besonders mit Kinderkrankheiten, der Pest und Gymnastik, über die er auch publizierte. Welcher italienische Arzt jedoch vertiefte sich explizit in einen anatomischen Atlas?

Die Abbildung ließ sich rasch ermitteln, denn am Kopf der aufgeschlagenen Seite ist ein Kolumnentitel angebracht, der diesem Fall mit dem Titel des Buches identisch ist: DE HVMANI CORPORIS. Bibliographisch exakt lautet er: DE HVMANI CORPORIS FABRICA. Dieser mit großzügigen Holzschnitten ausgestattete Band erschien 1543 bei Johannes Oporin(us, auch: Johann Herpst. 1507─1568) in Basel, »einem der bedeutendsten Drucker seiner Zeit«. Es wurde zum maßgeblichen Standardwerk für Anatomen. »Der meistbewunderte Druck des Oporino ist De humani corporis fabrica des Andreas Vesalius von 1543 mit ihren herausragenden Holzschnitten. Insbesondere entstanden gegen 1000 Werke in seiner Offizin, meist wissenschaftlichen Inhalts« (F.G. Maier). Federico Zeri (S. 385) meinte noch, »the illustration is to be thought of as a drawing rather than an engraving«; beides trifft nicht zu; der Vesalius-Band ist mit vorzüglichen, relativ großen Holzschnitten illustriert, bei denen man annehmen kann, daß sie Vesalius selbst vorgezeichnet hat.

Andreas Vesalius (1514/15-1564) aus Brüssel war zu seiner Zeit eine europaweit geschätzte Spitzenkraft (s. Beitrag A. Mor: Andreas Vesalius). Er promovierte 1537 in Padua und erhielt dort einen Lehrstuhl. Doch der Vatikan lehnte das Sezieren von menschlichen Leichen ab, ohne die solche Spezialkenntnis zu erzielen nicht möglich war. Kaiser Karl V. dagegen protegierte Vesalius und zog ihn als Leibarzt heran. Der Künstler umgab seinen Auftraggeber ─ darin Holbein-Portraits ähnlich ─ mit seinem ´Handwerkszeug´: Fachbüchern. Das Interieur liegt voll von Büchern, die im Hintergrund aufgeschichtet sind. Einige Autorennamen sind auf die Einbände aufgemalt, horizontal liegend: PLATO[N]; ARISTOTEL[ES]; AVERROE[S]; PLINIVS. In der Nähe des Anatomen lagern GALE[N]O, AVIC[ENNA] und HIPPO[C]RATES griffbereit. An den Werken dieser Autoren zeichnet sich das Weltbild eines damaligen Anatomen bzw. Chirurgen ab: auch der Renaissancemediziner fußte auf der Antike. Daher war ein Arzt auch philosophisch bewandert.

Da oft mit Büchern zusammen Porträtierte ihr eigenes Werk im Gemälde hervorheben, wurde zunächst Vesalius als Dargestellter vermutet. Doch das ist zeitlich gar nicht möglich, denn er verunglückte und starb 1564 auf dem Mittelmeer bei Zakynthos, als sich sein Schiff auf der Rückreise von einer Pilgerfahrt nach Jerusalem befand. Somit kommt nur ein namhafter Anatom infrage, der in die Fußstapfen von Vesalius trat. Dafür kommt Giulio Cesare Aranzio (ca. 1530 Bologna─1589) in Betracht. Daß er der nicht nur zeitlich passende Kandidat ist, bestätigt ein Blick in das Dizionario degli Bolognesi. Aranzi edierte eine Schrift des Hippokrates De vulneribus capitis. Bei Mondella werden auch die anderen Autoren genannt: Aristoteles, Galen und Hippokrates, wie sie im Hintergrund aufgeschichtet sind. Interessant an den Bezugspersonen ist, daß die Hälfte der im Gemälde zitierten Autoren aus heutiger Sicht als Philosophen eingestuft wird. Sie bildeten offensichtlich die geistige Basis eines damaligen forschenden Mediziners. Daß Aranzios Bildung eine breite Grundlage hatte, ist auch aus der im Gemälde gezeigten Armillarsphäre (über der rechten Hand platziert; zur Armillarsphäre vgl. Beitrag Cariani, J. Stöffler) zu erkennen.

Aranzio wurde bei dem Chirurgen Bartolomeo Maggi in Bologna ausgebildet und promovierte 1556 bei ihm. Danach wurde er auf einen Lehrstuhl für Chirurgie berufen. Erst 1588 gelangte er an sein berufliches Ziel eines Anatomen-Lehrstuhls in Padua. Seine Bewunderung für Vesalius hing mit seiner an Aristoteles geschulten Naturbeobachtung zusammen. Sein Spezialgebiet war die Geburtshilfe-Technik. 1563 veröffentlichte er in Bologna De humano foetu libellus und 1579 in Basel De tumoribus secundum locos affectos liber. Zehn Jahre nach seinem Tod erschien in Frankfurt/M. eine Sammlung 50.01-NEB-1-Skelett 240seiner Briefe, denn Aranzio hatte mit vielen Kollegen seines Fachs in Europa in Briefwechsel gestanden.

Ist auch die Personenfrage geklärt, sind jedoch weitere Fragen noch offen. Aranzio deutet im Gemälde auf die Doppelseite mit dem gebeugten Skelett nach links. Im 1543 gedruckten Exemplar jedoch richtet sich dieses nach rechts. Wie ist das zu erklären? »Pazzini believes that the Codex represents Vesalius‘ original manuscript and that the portrait is of the celebrated scientist himself« (Zeri S. 385). Wie gesagt, ist dies von der Lebenszeit her nicht möglich. Es könnte nur sein, daß 1585 an der Universität Padua noch ein Unikat existierte, nämlich das Originalmanuskript von Vesalius mit dessen (?) Illustrationen, das Aranzio zugänglich war oder das er antiquarisch erwerben konnte. Der überaus tüchtige Holz- bzw. Formschneider soll übrigens Johannes von Calcar (1499─1546/50) gewesen sein. Doch ist diese Annahme umstritten.

Aranzio wurde bei dem Chirurgen Bartolomeo Maggi in Bologna ausgebildet und promovierte 1556 bei ihm. Danach wurde er auf einen Lehrstuhl für Chirurgie berufen. Erst 1588 gelangte er an sein berufliches Ziel eines Anatomen-Lehrstuhls in Padua. Seine Bewunderung für Vesalius hing mit seiner an Aristoteles geschulten Naturbeobachtung zusammen. Sein Spezialgebiet war die Geburtshilfe-Technik. 1563 veröffentlichte er in Bologna De humano foetu libellus und 1579 in Basel De tumoribus secundum locos affectos liber. Zehn Jahre nach seinem Tod erschien in Frankfurt/M. eine Sammlung seiner Briefe, denn Aranzio hatte zu vielen Kollegen seines Fachs in Europa Kontakte.

Einige Generationen hat sich keiner um dieses Bild ohne Titel und Urheber gekümmert. Ein wichtiges Element des diskutierten Portraits ist aber die Eleganz und der Stolz des dargestellten Arztes, die für Aranzio sprechen, während Mercuriale im wikipedia-Beitrag von einem, bis auf den Bart, sehr beliebig und uncharakteristisch Dargestellten repräsentiert wird. Auch auf dem Vergleichsbild hat Mercuriale Bücher vor sich, die aber nicht betitelt sind. Daß Aranzio der zutreffendere Kandidat für das Gemälde ist, ergibt sich zudem aber durch den Titel einer seiner Veröffentlichungen: Julii Caes. Arantii Philosophi, Ac Medici Bononensis Medicinae, ac Anatomes Publici Professoris De Humano Foetu libellus, die 1664 in Leiden erschienen ist. Hier wird Aranzio ─ nicht ohne Grund ─ als Mediziner, Anatom und Philosoph bezeichnet. Gerade auf die Kombination der Fächer wird im Gemälde durch Nennung der Autoren deutlich verwiesen.

Ist damit auch die Personenfrage geklärt, bleiben jedoch weitere Fragen noch offen. Aranzio deutet im Gemälde auf die Doppelseite mit dem gebeugten Skelett nach links. Im 1543 gedruckten Exemplar jedoch richtet sich dieses nach rechts. Wie ist das zu erklären? »Pazzini believes that the Codex represents Vesalius‘ original manuscript and that the portrait is of the celebrated scientist himself« (Zeri S. 385). Wie gesagt, ist dies von der Lebenszeit her nicht möglich. Es könnte nur sein, daß 1585 an der Universität Padua noch ein Unikat existierte, nämlich das Originalmanuskript von Vesalius mit dessen (?) Illustrationen, das Aranzio anscheinend zugänglich war oder das er vielleicht antiquarisch erwerben konnte. Der überaus tüchtige Holz- bzw. Formschneider soll übrigens Johannes von Calcar (1499─1546/50) gewesen sein. Doch ist diese Annahme noch umstritten. Es befindet sich nur ein winziges Kennzeichen im ersten Holzschnitt, das als seine Signatur angesehen werden könnte, in Form einer Ligatur. Der Formschneider mußte 1:1 nach 71.24-NEB 240Formschneider. Holzschnitt aus
Ständebuch von Jost Amman
einer Vorlage in der Holzplatte arbeiten können. Beim Abdruck fand automatisch ein Seitenwechsel statt; anders ist das technisch nicht möglich.


»The Codex in the physician’s hand is clearly meant to represent a manuscript rather than a printed book« (Zeri S. 385). Diese Lösung jedoch ist bzw. war in der Praxis nicht üblich, denn die Setzer konnten nur nach Einzelblättern, einseitig beschriftet, arbeiten. Bei dem erheblichen Umfang waren aber mit Sicherheit mehrere Handsetzer an dem Objekt beteiligt. Dazu waren nur lose Blätter geeignet. Daß diese vielen Seiten dann nach der technischen Abwicklung zu einem Konvolut gebunden wurden, erscheint sehr fraglich, denn es war nicht üblich. Außerdem wären dann keine Doppelseiten zustande gekommen, weil das Konvolut aus lauter Einzelblättern bestand.

Es bleibt zum Schluß noch die Frage nach dem Schauplatz. Bei Vesalius und Aranzio kommt Padua in Betracht. Insofern ist eigentlich von einem venezianischen Maler auszugehen. In Padua unterhielt die Republik Venedig ihre stolze Universität. Bologna war dagegen eine Stadt des Kirchenstaats, der bekanntlich das Sezieren als Frevel ablehnte bzw. sogar polizeilich verfolgen ließ. Solche Razzien müssen in Padua Ende des 16. Jahrhunderts auch stattgefunden haben, denn 1591 wurde präventiv das sog. anatomische Theater in der medizinischen Fakultät eingerichtet: »ein in mehreren Rängen aufsteigendes Theater, eine Holzkonstruktion, die bis 1872 für Anatomievorlesungen benutzt wurde« (Erich Egg u.a. S. 353). Dieses kann heute noch besichtigt werden. Der Seziertisch war so konstruiert war, daß im Ernstfall die verwendete Leiche durch eine Falltür auf eine dort stationierte Gondel abgesenkt werden konnte, um die Polizei ins Leere laufen zu lassen.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2018

Literatur
Allgemeines Künstlerlexikon. Band 15 München u.a. 1997
Dizionario degli Bolognesi. Vol. I. Bologna 1989
E. Egg u.a. In: Reclams Kunstführer Oberitalien-Ost Stuttgart 1965
F. G. Maier. In: Lexikon des gesamten Buchwesens. Band V Stuttgart 1999
F. Mondella. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol. 3 Roma 1961
Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 2007 S. 78
https://de.wikipedia.org/wiki/Girolamo_Mercuriale (11.1.2018)
Federico Zeri: Italian Paintings in the Walters Art Gallery. Vol. II Baltimore 1976

Bildnachweis
http://art.thewalters.org/detail/19054/portrait-of-gerolamo-mercuriale/ (11.1.2018)
Federico Zeri: Italian Paintings in the Walters Art Gallery. Vol. II Baltimore 1976 Plate 184
Jost Amman. Das Ständebuch. Leipzig 1975 S. 17
Unbekannter Künstler: Portrait des Andreas Vesalius. Aus: De humani corporis fabrica. Basel 1543