Erstveröffentlichung

Andrea Solario (?)
Jacopo Antiquari

66.01-Solario-Antiquari 240Als die Galleria Nazionale di Parma 1840 das ritratto virile in nero (Öl auf Holz, 100 x 81 cm. Inv. Nr. 301) eines anonimo veneto von der Contessa Adelaide Baiardi ankaufte, wurde durch C.Ricci der Dargestellte als ein Mitglied der Familie Baiardi angesehen. So kam es dazu, daß der Jurist und Literat Jacopo Baiardi (1489─1517) aus Parma mit der Person identifiziert wurde; doch diese These ließ sich zeitlich nicht halten, denn das Gemälde muß gegen 1524, dem Todesjahr Solarios, entstanden sein.

Mit unterkühlter Sachlichkeit wird in dem Bildnis ein Gelehrter vorgestellt, der in einen durchgehend schwarzen Überrock gekleidet ist, der nur am Hals ein wenig Weiß vom Hemd erkennen läßt. Dazu gehört ein flaches schwarzes, aber kantigen Barett, das seitlich vom Gesicht schüttere blonde Haare aufweist. Demnach ist die distanziert in die Ferne blickende Erscheinung als ein ca. 60jähriger Gelehrter einzustufen.

Da das Gemälde keinen Urheber und keine Vermerke bzw. Datierung enthält, waren bisher alle Versuche einer Identifizierung zum Scheitern verurteilt, ihn mit einer einst lebenden Person in Verbindung zu bringen. Der versonnene Blick und die betont feingliedrigen Hände des auf einem Faltstuhl (?) sitzenden älteren Mannes kontrastieren zum monumentalen Schwarz der Gestalt, welche die Mitte des Bildes vollkommen ausfüllt. Sie wurde vor einen getönten, olivgrünen Hintergrund gesetzt und strahlt innere Ruhe aus. Das untere Viertel des Bildnis wird dagegen plötzlich lebhaft, denn auf einer Unterlage, die nicht eindeutig als Tisch zu identifizieren ist, wird ein Orientteppich ausgebreitet, auf dem ein aufgeschlagenes Buch ruht, bei dem ein zweispaltiger Satzspiegel erkennbar ist. Die linke Hand ruht auf dem Buch, während die Rechte den Knauf einer Armlehne umfaßt. Um welchen Buchtitel es sich handelt, geht aus dem Satzbild leider nicht direkt hervor.

Die stark veristische Bildauffassung läßt die Vermutung aufkommen, es könnte ─ à la Jacopo de’Barbaris (1440/50─vor 1506) Mathematiker Luca Pacioli im Museo di Capodimonte, Neapel ─ ein Werk desselben Künstlers sein. Da aber das Gemälde lange in italienischem Privatbesitz war und de’Barbari seine letzten Jahre in Brügge verbrachte, kommt allenfalls ein Landsmann infrage, wahrscheinlich der Mailänder Andrea Solari (ca.1460─1524?). Für ihn spricht ein auffallend ähnlich angelegtes Solario-Giovanni-MoroneAndrea Solario: Giovanni Morone
1522. Galleria Gallarati-Scotti, Mailand

Portrait des mailändischen Kanzlers Girolamo Morone (Coll. Gallarati Scotti, Mailand). In beiden Fällen sind die Dargestellten fast mittig und fast frontal ausgerichtet ─ aber eben nicht ganz. Ihre Hände greifen zangenartig nach Papieren und ruhen jeweils auf einem Orientteppich. Die Hintergründe beider Bilder sind abgestuft monochrom getönt. Der Gestus ist bei dem Kanzler Morone stärker ausgeprägt, als bei dem Gelehrten, vermutlich um Morone als den Machtmenschen anzudeuten. Dafür wirken die Hände des Gelehrten zartfühlender, die Linke sogar tastend. Beide Männer blicken den Betrachter nicht an, sondern aus dem Bild heraus. Bei beiden jedoch zeigt die Schließlinie des Mundes an, daß sie zu ihrem Tun fest entschlossen sind. »Die Krone aller Bildnisschöpfungen Solarios ist der Kanzler Girolamo Morone in der Sammlung des Duca Gallerati Scotti in Mailand« (W. Suida) von 1512. Leider ist auch Solarios
GirolamoMorone nicht vom Künstler datiert (ein weiteres Indiz für ihn als Ausführenden beim Gelehrten?). Anzunehmen ist aber, daß der Gelehrte nach 1500 und gegen 1510 porträtiert wurde.


Doch der etwas asketisch erscheinende bartlose Gelehrte ist damit noch nicht gefunden. Vermuten läßt sich jedoch, daß es sich ebenfalls um eine Person des Mailänder Hofes handelt. Sucht man nun nach einem Gelehrten, der um 1510 60-70jährig war, kommt ein Mann aus den Jahrgängen 1440─1450 infrage.

Das blonde Haar des Dargestellten muß nicht bedeuten, daß nur ein Nordeuropäer in Betracht kommt, da die langobardische Vergangenheit Oberitaliens viele blonde Menschen aufwies. Die Ausstattung des Mannes läßt die Frage, ob es sich vielleicht um einen Theologen handelt, obsolet erscheinen, da kein klerikaler Gegenstand im Bild vorkommt. Ganz unvermögend war der Dargestellte nicht, denn er trägt am kleinen Finger der linken Hand einen Ring als Besitzstandsanzeige.

Da für den Mann Bücher wichtig waren, konzentrierte sich die Suche auf einen Humanisten ─ und war erfolgreich mit Jacopo Antiquari(o), geboren 1444 in Perugia und gestorben 1512 in Mailand. Perugia war schon damals Universitätsstadt. Als Vater wird ein Stefano Antiquari angenommen, der als Arzt tätig war. Die Vermutung, daß der Familiennamen darauf zurückgeht, daß mit Antiquitäten gehandelt wurde, hat sich als irrig erwiesen. Ab 1467 hielt sich Jacopo Antiquari in Bologna auf, der damaligen Spitzenuniversität und wandte sich 1472 nach Mailand. Von Giovanni Antonio Campano (ca.1429─1477) beeinflußt, neigte Antiquari zu einer Existenz als Schriftsteller. Als Brotberuf wählte er zunächst ein Engagement bei Hofe; so wurde er beim Herzog Galeazzo Maria Sforza (1444─1476) als Berater beschäftigt und von seinem Nachfolger, Ludovico il Moro (1452─1508), in gleicher Tätigkeit. Hier traf er auf eine Reihe sehr gebildeter Männer wie Bartolomeo Calco (ca.1434─1508), den Sekretär des Herzogs Galeazzo, der Wissenschaft und Bildung förderte. Auch mit dem bedeutenden Humanisten Angelo Poliziano (1454─1494) stand Antiquari in Verbindung. Jedoch als Ludovico il Moro 1499 fliehen mußte, verlor Antiquari seine öffentlichen Ämter und beschloß, sich ganz seinen Studien zu widmen, blieb aber in Mailand. Wie Leonardo da Vinci ließ auch Antiquari sich von den neuen Herrschern in Mailand, dem französischen König Louis XII. und seinem Statthalter, dem kunstliebenden Kardinal Georges d‘Amboise (1460─1510) anwerben.

Das Ergebnis der folgenden Studienjahre findet sich im Bildnis wieder: ein aufgeschlagenes Buch, in dem man nur die Zeile Liber primus lesen kann. Dieses war sozusagen ein Auftragswerk und erschien 1509 im Druck unter dem Titel Oratio ad Ludovicum regem Francorum. Damit ist nicht Ludovico il Moro, sondern der damalige französische König Louis XII. (1462─1515) gemeint, der 1509 bei Ghiaradadda gesiegt hatte und Mailand annektierte. Der Glanz des französischen Hofs faszinierte damals einen großen Teil des oberitalienischen Adels.

Die Übereinstimmung des gemalten Buches mit der Originalausgabe zu überprüfen war leider nicht möglich, da dieses Werk in keiner deutschen wissenschaftlichen Bibliothek registriert ist. Das Erscheinungsjahr jedoch ist in diesem Zusammenhang wichtig, denn das Gemälde kann nur nach Auslieferung des Buches entstanden sein, also wohl 1509/10.

Literatur
E. Bigi. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol. III Rom 1961
Thomas B. Deutscher. In: Contemporaries of Erasmus. Toronto/Buffalo/London 2003
Lucia Fornari Schianchi. In: Galleria Nazionale di Parma. Il Seicento. Milano 1999
W. Suida. In: Allgemeines Lexikon der Bildenden Künstler: Leipzig 1937 Band 31

Bildnachweis
Galleria Nazionale di Parma. Il Seicento. Milano 1999 S. 5
collezione Gallarati Scotti, Milano