Erstveröffentlichung

Cariani
Giulio Romano

02.05 Cariani - G.Romano 240In der Enzyklopädie der Antike, dem Neuen Pauly, nimmt der Text über den Torso vom Belvedere mehr als vier Spalten ein; in der ursprünglichen Auflage von 1937 fehlt kurioserweise dieses Stichwort, obwohl sich schon J. J. Winckelmann 1767 rühmend über ihn geäußert hat. Künstlerisch haben sich viele mit ihm auseinandergesetzt, sogar Picasso 1892/93. Überhaupt gilt dieser Torso seit langem als »Symbol der untergegangenen Antike« (Berthold Hinz). Er wurde in einem Dutzend von Erklärungsversuchen mal als Satyr, mal als Polyphem, mal als Prometheus gedeutet; seine Zuordnung ist jedoch immer noch nicht aufgeklärt.

Die schwer beschädigte, sitzende Skulptur aus der griechischen Antike (1. Jahrhundert v. Chr.), geschaffen von Apollonios von Athen, befindet sich – umgeben von griechischen Büsten berühmter Dichter, Denker und Politiker – im Sala delle Muse des Museo Pio-Clementino (Nr. 1192) im Vatikan in Rom. Dort bekam sie Michelangelo zu sehen; er soll trotz des fragmentarischen Zustands begeistert ausgerufen 02.05-PicassoSchülerarbeit von Pablo Picasso
Silberstiftzeichnung 1892/93
haben: »Wahrlich, das hat ein Mensch gemacht, der weiser war als die Natur! Ein Jammer, daß es ein Torso ist!« Aber gerade, daß es ein Torso ist, hat die Plastik berühmt gemacht ─ genauer: den Torso zu einer immer wieder von Künstlern genutzten künstlerischen Form aufgewertet. Auch in der Malerei gibt es eine Fülle von Folgeerscheinungen. In der 1508-10 entstandenen Ausmalung der
capella sistina läßt sich vermuten, daß Michelangelo die flankierende männliche Figur unten rechts in dem Feld Gott scheidet Licht und Finsternis Bezug auf den Torso genommen hat.

Seltsam erscheint es daher, daß es, wenn auch in einer entlegenen Privatsammlung, ein Portrait von ca. 1520 eines Mannes mittlerer Jahre gibt (Ritratto di un Collezionista), das gerade diesen Torso gemalt zeigt und zwar nicht aufrecht, sondern quer gelagert vor dem Dargestellten. Gemäß einer Zuschreibung von Berenson hat lt. Rodolfo Pallucchini und Francesco Rossi das Bild der venezianische Porträtist Cariani angefertigt. Sie haben dem Gemälde A 25 auch den Titel Ritratto di un Collezionista di Antiqua gegeben (Öl auf Leinwand 75 x 66 cm. Sammlung der Marquess Lansdowne, Caine Wiltshire/UK). Es wird u.a. als Kopie eines verlorenen Originals bewertet.

Vertieft man sich in das Gemälde, fällt zweierlei auf: in Schulterhöhe wird ein großer Zirkel gezeigt, den man nicht primär einem Sammler zuordnen würde, in der Zeit um 1500 eher einem Architekten, oder einem Bildhauer, der als Kopist tätig war. Auch legt der Porträtierte seine schwere Hand auf den Rücken des Torsos ─ vielleicht im Bewußtsein über ein gelungenes Werk, vielleicht in Besitzerstolz. Doch wie kann es sein, daß dieses attraktive Stück Antike, die singularissima figura, die Napoleon I. 1797 als Beutegut nach Paris verschleppte, um 1500 einem Privatmann gehörte?

Über Fundort und Zeitpunkt liegen leider keinerlei Angaben vor; man geht von einem Fund lange vor 1500 aus. Hinz berichtet zusammenfassend: »Die Fundumstände sind unbekannt; erwähnt wird der T[orso] erstmals um 1435. Zunächst in Colonna-Besitz [Kardinal Prospero Colonna] (Rom), gehörte er um 1500 dem Bildhauer Andrea Bregno«. Dieser war tatsächlich in Rom und für verschiedene Kardinäle tätig. Auch Lorenzo Il Magnifico ließ bei ihm arbeiten; er dirigierte z. B. einen Marmorblock an ´Andreas marmorius´ nach Siena, weil Andrea Bregno (1418─1503) 1481 für Kardinal Piccolomini arbeitete. Doch für das Portrait kommt Bregno nicht infrage, da er lt. Grabstein in St. Maria sopra Minverva 1506 verstarb.

Nach Bruno Sauer existiert ein Holzschnitt des Torso, der mit 1510-20 datiert wird. Die ersten künstlerischen Zeichnungen des Torso stammen schon aus der Zeit um 1500 und sind im Wolfegger Skizzenbuch enthalten. Sie wurden von der Hand des Bildhauers Amico Aspertini (ca. 1474/75─1552) gefertigt, der in Bologna geboren wurde. Dieser lt. Thieme-Becker offenbar vielseitige und produktive Miniaturmaler, Bildhauer und Stecher soll seine Ausbildung selbst in die Hand genommen haben, indem er wichtige Städte Italiens bereiste und »Zeichnungen und Skizzen von allen Gemälden und Reliefs, die er sah, fertigte und die er für seine Werke benutzte. Das Ziel dieser Reisen war vor allem Rom, wie die Fülle der antiken Fragmente 02.05-Cariani---NEB 240 IIAmico Aspertini: Zeichnungbeweist, die in seinen Malereien verstreut sind«. Achillini erwähnt ihn in Verbindung mit römischen Grotten, und Vasari betont zwar, daß er dort viel arbeitete, versäumt jedoch leider, genauere Angabe zu machen. Immerhin kann angenommen werden, daß ihm der Torso vom Belvedere nicht entgangen ist. Lisetta Ciaccio (in Thieme-Becker) bestätigt, daß Amico Aspertini gegen 1500 in Rom anwesend sein mußte und später verschiedentlich dahin zurückkehrte.

Nun setzt Hinz die Aufstellung des Torso im Vatikan für die 1530er Jahre an. Das war die Amtszeit von Clemens VII. Doch welcher Papst den Ankauf veranlaßte, ist leider unbekannt; vielleicht kam es auch zu einer Schenkung. Die Autoren der maßgeblichen Cariani-Monographie nehmen für das Gemälde um 1520 an. Leider liegt auch für diesen Zeitraum kein Dokument vor, wo und in welchem Privatbesitz sich der Torso damals befand. Daraus ergeben sich mehrere Überlegungen.

Bevor sich der Päpstliche Stuhl um den evtl. Ankauf bemühte, war der Torso offenbar in privater Hand. Da Bregno 1506 starb, ist zu vermuten, daß Aspertini den Torso aus dem Nachlaß des Kollegen erwerben konnte. Seine wiederholte Anwesenheit in Rom machte es immerhin möglich, vor allem seine Antiken-Begeisterung spricht dafür, die sich in seinen zahlreichen Skizzen ausdrückt, Seinen, durch seine Handhaltung sichtbaren Besitzerstolz hätte sich Aspertini dann von seinem Malerkollegen Cariani dokumentieren lassen, da er sich wie Michelangelo offenbar des künstlerischen Ranges der Skulptur bewußt war. Ein gesichertes Portrait von ihm ist leider nicht bekannt.

02.05 Cariani Giulio R  Wolfegg 240Amico Aspertini: Zeichnung im
Codex Wolfegg
So naheliegend diese Hypothese zunächst erscheint, ist sie wohl nicht haltbar. Schaut man sich die Torso-Zeichnung Aspertinis im Codex Wolfegg genauer an, fällt auf, daß sich das Original der Statue und Aspertinis Zeichnung wohl ähneln, Aspertini aber wohl kaum vor dem Original gezeichnet hat, da der Rumpf nicht geknickt sondern gerade ist. Gunter Schweikhart (S. 39) nimmt daher an, daß Aspertini die Vorlage eines anderen Künstlers in sein Skizzenbuch übertragen hat.

1520 ist das Todesjahr von Raffael. Dieser beschäftigte zwei Meisterschüler, die auch die angefangenen Werke von Raffael auftragsgemäß zu Ende führten. Es waren Gianfrancesco Penni und vor allem Giulio Romano (1499─1546). Dieser wurde 1524 von Federico II. Gonzaga als leitender Architekt bzw. Generalunternehmer an seinen Hof in Mantua berufen; dort ist Giulio Romano auch gestorben. Er war vielseitig angelegt und ist auch als Maler hervorgetreten, insbesondere durch die Ausmalung des Palazzo Te. Seine Figuren erwecken den Anschein großer Plastizität mit Orientierung an Michelangelo. Von daher läßt sich eine bildhauerische Neigung bei Giulio vermuten und daß er auch selbst mit Hammer und Meißel gearbeitet hat. Joachim Sandrart lieferte eine ausführliche Biographie von ihm (Teil II S. 114 r) und zitiert seine Grabinschrift, in deren Übersetzung es heißt: »…Julius nimmt mit sich in dem Sterben drey schöne Künsten weg«. Darin ist also neben Malerei und Architektur die Bildhauerei eingeschlossen. Skulpturen sind jedoch nicht nachgewiesen. So muß die Frage offen bleiben.

In Giulio Romano einen zeitweiligen Besitzer des Torso zu sehen, mag von manchem mit Skepsis aufgenommen werden. Aber es gibt da Fakten, die kein Zufall sein können. Der interessanteste Raum im Palazzo Te ist die Camera di Psiche. Die Ausmalung kann als Spitzenwerk Giulio Romanos angesehen werden. Unter der Lunetta II mit Ceres und Juno befindet sich eine figurenreiche Szene vor eine Art Kredenz. Unter dem Schriftband CAPITANEVS ist ein reicher ´Gabentisch´ zu 02.05-Cariani-Giulio-RomanoGiulio Romano: Wandgemälde
im Palazzo Te (Detail)
erkennen, neben dem rechts Dionysos und der angetrunkene Silen platziert sind, der auf einem Schaf (?) sitzt und sich nach hinten streckt. Dabei legt er seinen linken Arm um einen Satyr. Giulio Romano hat offensichtlich die Haltung des
Torso hierher übertragen. Von den vier Extremitäten sind drei so abgedeckt, wie sie beim Torso abgebrochen sind; nur das linke Bein wurde ganz ausgeführt und hat die leichte Anhebung wie in der Skulptur. Damit ist die Anspielung auf den Torso perfekt und zeigt, daß Giulio Romano die Skulptur genau studiert hatte.

Außerdem ist auf der Wand Gli invitati e gli sposi das banchetto iniziale zu sehen und darin Polyphem in La parete orientale. Er weist eine ähnliche Sitzhaltung auf wie Silen; doch in diesem Motiv ist infolge des vorgestreckten Unterschenkels der Bauch verdeckt. Infolgedessen ist die Pose des Torso nicht so augenfällig erkennbar.

Da Giulio Romano, wie man heute sagt, gut vernetzt war, macht es außerdem wahrscheinlich, daß er für seinen Dienstherrn Federico Gonzaga auch Statuen beschafft hat, antike wie zeitgenössische. Federicos Mutter, Isabella d’Este (vgl. Beitrag Bartolommeo Veneto, Isabella) war eine extensive Sammlerin von Antiken. Der im Portrait abgebildete Torso müßte also entweder eine vom antiken Torso inspirierte Variante und Jugendwerk von Giulio sein, oder wurde von ihm oder von einem Bildhauerkollegen, z. B. Aspertini, in Rom erworben.

02.05 Cariani - Giulio Romano NEB 240Giulio Romano, Selbstbildnis
Kolorierte Zeichnung 1538/40.
Uffizien, Florenz
Aufschlußreich ist eine Gegenüberstellung. Die Uffizien in Florenz verfügen über eine Pastellzeichnung (auf Papier 55 x 41 cm) von Giulio Romano, die er von sich im Jahr um 1540 gemalt hat. Obwohl etwa 20 Jahre zwischen beiden Portraits liegen, gibt es in der Physiognomie starke Übereinstimmungen. Um 1540 trägt Giulio ebenfalls reichliches, dunkel gekräuseltes Haar, wenn auch mit etwas höherer Stirn.

Die Augen sind in beiden Fällen dunkel. Beide Portraits zeigen einen Vollbart, wobei der Schnurrbart in der Jugend etwas schmäler gehalten war. Die kräftigen Lippen im frühen Bild von Cariani sind um 1540 infolge des etwas breiter getragenen Schnurrbarts noch an der Unterlippe wiederzuerkennen. Ausschlaggebend jedoch ist die Nase: auffallend kräftig um 1520 und um 1540 immer noch deutlich herausragend. Von der Physiognomie her besteht sonst keine Abweichung. Daher läßt sich Giulio Romano als Porträtierter ins Auge fassen. Durch die vielfältigen Verbindungen der Gonzagas (vgl. Beitrag Bartolomeo Veneto, Francesco Gonzaga) nach Venedig ist auch für Giulio ein Kontakt zum venezianischen Porträtisten Cariani denkbar. Zur Portraitsitzung scheint Cariani nicht in Rom gewesen zu sein; jedenfalls liegen der Forschung darüber keine Erkenntnisse vor.

02.05-Cariani-G.R Neb 240Apollo Belvedere. Torso. Marmor 2,24 m
nach dem Bronze-Original von Leochares
Museo Pio-Clementino, Rom (Vatikan)
Bei genauerem Vergleich des antiken Torso mit dem von Cariani gemalten fallen Differenzen auf. Dem antiken Torso fehlen die Armansätze bzw. Schultern, die bei Cariani erkennbar sind. Falls das Gemälde in Venedig entstanden ist, standen Cariani offenbar nur Skizzen von Aspertini zur Verfügung. Dafür spricht die abweichende Ausformung des Torsos. Vor allem ist zu bedenken, daß das Portrait nur eine Breite von 25 cm hat, für den Torso dort also noch weniger Breite zur Verfügung stand und somit nicht so exakt, wie im sechsmal so großen Original, wiedergegeben werden konnte. Ist es nur die Differenz der Größe, die Cariani die künstlerische Freiheit erlaubte, so großzügig die Skulptur abzuwandeln? Immerhin mißt der Torso des Apollonios noch als Fragment 1,59 m und ist damit größer als ein menschlicher Körper. In der Querlage Carianis müßte man also maßstabsgerecht ein Längenmaß von rd. 60 cm annehmen, d.h. die gesamte Breite ausfüllend.

Das veranschaulicht: Im Bild kann nicht der originale antike Torso gemeint sein, sondern eine freie Variante. Die Brüche, die Haltung, die gespreizten
Beine sprechen deutlich für eine Anspielung auf den antiken Torso, der Rom in den Jahren um 1520/30 offenbar nicht verlassen hatte, aber Gesprächsthema war. Da das Original weit weg von Mantua oder Venedig aufbewahrt wurde, gab man sich auch mit einer sehr freien und dazu nicht maßstäblichen Kopie zufrieden. Das erinnert an Michelangelos Schlafenden Cupido, eine kleine Marmorskulptur, die unter dem Eindruck der Antiken im Garten der Medici-Villa entstand. Darüber berichtet Sandrart (Teil II S. 147): »Nachmalen begab er sich wieder nach Florenz und machte daselbst unter anderem einen schlaffenden Cupido in Lebens-Grösse so wol, daß er scheine alt und Antich zu seyn, dergleichen einen (wie man sagt) Balthasar Milanese zu Rom in seinem Weingarten verbergen und wieder ausgraben lassen (auch solchen hernach dem Cardinal S. Giorgio [Raffaele Riario] um 200 Ducaten verkauft haben solle«. Der Ruhm des Torso hatte offenbar schnell um sich gegriffen und damit Begehrlichkeit nach Antiken geweckt.

Wenn manchem die Ähnlichkeit der Physiognomie für einen Beweis nicht ausreichend erscheint, sei auf den Zirkel im Gemälde verwiesen. Zahlreiche Architektenporträts, u.a. der deutschen Renaissance, weisen sich durch einen Zirkel aus. Ein Bildhauer, der Kopien nach Originalen anfertigen muß, verwendete dagegen den Storchschnabel bzw. Pantograph, wenn Vorlage und Kopie im Maßstab differierten. Aber die Bauleitung war Giulio Romanos primäre Aufgabe; offenbar wollte er auf diesen Ausweis seiner Hauptaufgabe im Portrait nicht verzichten.

PS. Daß sich auch Michelangelo mit dem Torso beschäftigt hat, wurde bereits erwähnt. Er malte 1508-12 die Sixtinische Kapelle aus und hat sich offenbar auch vom Torso inspirieren lassen, wie die Haltung des Adam zeigt.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2015


Literatur
Alessandro Achillini (u.a.): Bibliotheca Palatina. Druckschriften. 1515
www.census.de der Humboldt-Universität Berlin
James Cleugh: Die Medici. München/Zürich 1975
Anton Henze u.a. In: Reclams Kunstführer Italien V Rom und Latium. Stuttgart 1974
Berthold Hinz. In: Der Neue Pauly. Enzyklopädie der Antike. Bd. 15. Stuttgart/Weimar 2003
Heinrich Koch: Michelangelo. Reinbek 1966
G. Mariacher. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Vol. 41. Roma 1992
Rodolfo Pallucchini/Francesco Rossi: Giovanni Cariani. Milano 1983
Joachim Sandrart: Der Teutschen Academie Zweyten Theils Erstes Buch. Nürnberg 1675
Bruno Sauer: Der Torso vom Belvedere. Giessen 1894
Gunter Schweikhart: Der Codex Wolfegg. Zeichnungen nach der Antike von Amico Aspertini. London 1986
Rodolfo Signorini: Il Palazzo del Te e la Camera di Psiche. Mantua 2001. S. 94/95, 147
Johann Joachim Winckelmann: Vorrede zu den Anmerkungen zur Geschichte der Kunst. Werke III Dresden 1767 S.39

Bildnachweise
Rodolfo Pallucchini/Francesco Rossi: Giovanni Cariani. Milano 1983 A 25
Pablo Picasso: Schülerarbeit. Museo Picasso de Barcelona (Postkarte)

Torso:
http://www.mahagoni-magazin.de/skulptur/der-torso-von-belvedere-%E2%80%93-die-lust-am-ratselhaften-erstes-jh-v-chr (15.1.2014)
Wolfegger Skizzenbuch
Gunter Schweikhart: Der Codex Wolfegg. Zeichnungen nach der Antike von Amico Aspertini. London 1986
Abb. 25
Rodolfo Signorini: Il Palazzo del Te e la Camera di Psiche. Mantua 2001. S. 94/95, 147 (Ausschnitt)
Giulio Romano: Autoritratto