Erstveröffentlichung

Fra Filippo Lippi

Giovanni Ghislieri

43.01-Lippi-Ghislier 240Anläßlich der großen Ausstellung Gesichter der Renaissance 2011/12 in Berlin und New York mit dem Schwerpunkt Florentiner Renaissance wurde kein Portrait von Keith Christman textlich so herausgehoben wie dieses Portrait of a Woman and a Man at a Casement um 1440-44 (Tempera auf Holz, 64,1 x 41,9 cm. The Metropolitan Museum of Art, New York Nr. 89.15.19): »Dieses ist eines der bahnbrechenden Werke der italienischen Portraitkunst: das früheste erhaltene Doppelportrait, das erste Werk, das ein weibliches Portrait in einem fiktiven Interieur verortet, das erste, in dem auch eine Hintergrundlandschaft erscheint« (S. 97).

Wegen seiner herausragenden Bedeutung haben sich schon manche Spezialisten mit der Identifikation des Werkes befaßt. Bereits 1913 ordnete Joseph Breck das abgebildete Paar

dem Florentiner Lorenzo di Rinieri Scolari und seiner Braut Agnola di Bernardo Sapiti zu, die 1436 geheiratet haben sollen. Doch Katalin Prajda ermittelte neuerdings, daß die beiden noch 1439 unverheiratet waren. Weitere Autoren brachten andere Personen ins Spiel, konnten aber damit die Fachwelt nicht überzeugen.

Bei allen Überlegungen spielte das unter den Händen des Mannes befindliche Wappen eine Rolle. Doch es findet sich weder im Adelslexikon von Walter Hueck (Hg.), noch im Großen Wappen-Bilder-Lexikon (1993) von Ottfried Neubecker. Aber die Heraldik hat über das Mittelalter hinausgehend und bis in unsere Zeit reichend eine solche Fülle von Wappen-Motiven hervorgebracht, daß auch die z. T. groß angelegten Strukturierungsversuche u.a. von Renesse längst nicht alles erfassen konnten. Nur in dem großen Tafelwerk von J.-P. Riestap finden sich auf der Tafel XLIV obenzwei Wappen mit nahezu übereinstimmender Zeichnung, die der Bologneser Familie Ghisilieri und der piemontesisch-römischen Familie Ghisleri zugewiesen werden.

Ob der Künstler Fra Filippo Lippi das Doppelporträt in Bologna gemalt hat oder andernorts, ist nicht zu klären, da der Lebenslauf des Klosterbruders Lippi in vielem undeutlich blieb. Er war jedoch nicht völlig ortsfest in Florenz; so hielt er sich z.B. 1434 in Padua auf. Eine blockierende Rolle bei der Aufklärung der Identität des Porträtierten könnte folgender Gedanke ausgeübt haben: Von einem florentinischen Maler wurde auch auf einen florentinischen Auftraggeber geschlossen.

Macht man sich davon frei, erscheint das Problem allerdings wie eine Nadel im Heuhaufen. Doch bei den Recherchen geriet zum passenden Zeitpunkt eine Tabelle mit Wappen Bologneser Senatoren von 1703 (aus dem Dizionario dei Bolognesi) in den Blickpunkt und erwies sich als Schlüssel für die bislang verschlossene Tür. In dieser Tabelle wird das Wappen mit den drei überzwerchen Sparren als Wappen der Patrizier-Familie Ghisilieri bezeichnet. Das trifft auch auf die Familie Ghislieri zu. In beiden Namenvarianten sind die Wappen einfarbig dargestellt und mit Schraffuren für die Farbangaben versehen. Danach wären bei beiden Familien die Sparren rot, während sie im Bild als schwarz oder dunkelblau erkennbar sind. Doch da die Bologneser Tafel aus dem 18. Jahrhundert stammt, könnte es sich auch um eine spätere Farbänderung handeln. Im Laufe von Generationen wurden häufig Abänderungen vorgenommen.

Um dieser Familie nachzuspüren, war der Schritt zum noch fragmentarischen Dizionario Biografico degli Italiani nicht weit. Immerhin haben es mehrere Ghisilieri geschafft, vom öffentlichen Gedächtnis Italiens bewahrt zu werden. Von diesen kommt zeitlich aber nur Francesco Ghisilieri infrage, da sein Lebenslauf die passenden Daten aufweist: Er wurde ca. 1415 in Bologna geboren. Sein Vater, Lippo Ghisilieri, war um 1376 Vertreter der oligarchischen Partei in Bologna und somit Beschützer der damals neuen signoria del popolo e delle arti. Faktisch bedeutete dies die Nähe zum örtlichen Machthaber Giovanni Bentivoglio (*um 1358─1402 ermordet). Von diesem wurde Lippo Ghisilieri zum cavaliere erhoben d.h. in die Adelspartei aufgenommen. Seine Aufgabe war es, eng mit dem päpstlichen Legaten zusammen zu arbeiten, denn Bologna war territorial ein wichtiger Bestandteil des Kirchenstaats. Bei seinem Tod 1435 hinterließ Ghisilieri seinen Kindern ein beträchtliches Erbe. Als einziger der Kinder war bei diesem Ereignis der Sohn Giovanni zugegen. Dieser dürfte mit Bedacht von den Eltern den Taufnamen des Herrschers bekommen haben. Die Nähe zum Herrscher jedenfalls brachte ihm »eine Position in der Stadt von absolutem Prestige« (Gesichter der Renaissance S. 96) ein, obwohl er gerade erst rd. 20 Jahre alt war. Doch er hatte sich bereits in der Zivilverwaltung des Territoriums kundig gemacht, ohne allerdings an der Universität als Jurist zu promovieren. Dennoch wurde er zum capitano della Montagna ernannt, der zur Stadt gehörigen südlichen Bergregion.

Giovanni Ghisilieri heiratete März 1436 Giacoma Bolognini. Sie war die Tochter eines der reichsten Seidenhändler. Dazu passend ist sie in ihrem Portrait aufwendig gekleidet. Aus der Ehe gingen zwei Söhne und eine Tochter hervor, die den Tod des Vaters überlebten. Die strenge Profildarstellung von Giacoma Bolognini entspricht dem Stil der Zeit. Dennoch wirkt das Gegenüber der beiden Brautleute recht formal. Denken liesse sich daher, daß nur sie Frau Filippo Lippi Porträt gesessen hat, und Giovanni Ghisilieri erst danach in das Bild eingefügt wurde. Die Möglichkeit einer Durchleuchtung des Gemäldes, um nach evtl. mehreren Arbeitsstadien zu forschen, stand nicht zur Verfügung. Träfe die Vermutung zu, würde es bedeuten, das Portrait von Giacoma Bolognini wäre ein Bestandteil der Mitgift gewesen. Doch darüber sind keine Angaben bekannt.

»Man hat von einem ´Zeitalter der Bentivoglio´ in Bologna gesprochen und meint damit die Jahre ab 1435, als Antonio Galeazzo Bentivoglio [*1385, der Sohn von Giovanni I. Bentivoglio] nach Jahren der Verbannung, ausgesöhnt mit dem Papst, in die Geburtsstadt zurückkehren durfte. Zwar wurde auch er bald [1437] ruchlos ermordet, aber seine Nachfahren bestimmten weiterhin die Stadtgeschichte« (Georg Kaufmann S. 100). Giovanni Ghisilieri war ein wichtiger Funktionsträger in der Stadt, so auch unter Annibale Bentivoglio ( 1445). Dieser trägt übrigens auf seinem Grabmal eine vergleichbare Mütze wie Giovanni Ghisilieri im Porträt. Die rote Mütze deutete damals ohnehin auf eine hochrangige herrschaftliche Amtsperson hin.

An Merkmalen sprechen für Giovanni Ghisilieri als Porträtierten sowohl die rote Mütze als auch die drei Sparren des Familienwappens sowie das Heiratsdatum. Für Giacoma Bolognini als Braut sprechen die reiche textile Ausstattung, die Verwendung von wertvollem Schmuck an vier Stellen im Bild, darunter große Perlen (Beschreibung der Gewänder bei Edwards). Daß es sich um ein Brautbild handelt, geht im Übrigen aus der Beschriftung des Ärmels hervor: »… das Motto lealtà (Treue), das mit Goldfaden und Saatperlen auf ihren hermelingesäumten Ärmel gestickt ist« (K. Christman). Der Blick aus dem Fenster zeigt einen Landsitz, wie ihn Ghisilieri sicherlich besaß und in die Ehe einbrachte.

Christman zieht auch Robert Baldwin heran, der in seiner Publikation »die Bedeutung des Blicks in der Liebesdichtung betont und geht von der Relevanz eines Verses aus dem Hohelied Salomos (2,9) für das Bild aus. Es heißt dort von dem Bräutigam … „Ja, draußen steht er / an der Wand unseres Hauses; er blickt durch das Fenster, späht durch die Gitter“« (Christman S. 98). Die Familie Ghisilieri hatte zur Dante-Zeit einen Poeten aufzuweisen: Guido Ghisilieri, der in der Art Guido Guinizellis (ca. 1230─ca.1276) schrieb und mit Dante befreundet war. Insofern kommt der literarischen Anspielung durchaus Bedeutung zu.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2018

Literatur
Joseph Breck: A Double Portrait by Filippo Lippi. In: Art in America 2/1913
Keith Christman. In: Gesichter der Renaissance. München 2011 S. 97f
Dizionario dei Bolognesi. I. Hg. Giancarlo Bernabei. Bologna 1989/90
European Paintings in the Metropolitan Museum. New York 1995 S. 18
Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portraitkunst. Berlin 2011
Georg Kaufmann. In: Reclams Kunstführer Italien. Emilia-Romagna, Marken, Umbrien. Stuttgart 1971
Giuseppe Marchini: Filippino Lippi. Mailand 1975
J.-P. Riestap: Planches de l’Armorial Général. Hg. V. Rolland. III. Paris 1909
Vittorio Scarbi: Antonio da Crevalcore. Milano 1985 S. 69-71
Giorgio Tamba. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 54 Catanzaro 2000

Bildnachweis
Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portraitkunst. Berlin 2011 S.97