Erstveröffentlichung

Filippino Lippi (?)

Lluis del Milà

42.01-F.Lippi-Lluis-de-Mila 240Unter den Musikerportraits aus der Zeit um 1500 ist das Gemälde von Filippino Lippi (ca.1457─1504) eines der reizvollsten. Ein Musiker hält den Bogen im linken Armwinkel und stimmt die Saiten einer lira da braccio. Hinter ihm befindet sich ein Regal mit Büchern ─ ein Hinweis auf den Bildungshintergrund des Dargestellten. Außerdem enthält das Regal eine kleine Laute und zwei weitere Streichinstrumente ─ ein weiterer Hinweis auf die Vielseitigkeit des Dargestellten. Eigentümer des informativen Porträts ist die National Gallery of Ireland in Dublin (Eitempera auf Holz, 51 x 36 cm. NGI 470). Von ihr wurde es 1897 erworben. Ob das Portrait definitiv von Filippino Lippi oder Cosme Tura (um 1430─1495) gemalt wurde, muß offen bleiben. In der Ausgabe des Essential Guide wird überraschend und ohne Nachweis Tura als Urheber bezeichnet, möglicherweise weil Marchini in seiner Lippi-Monographie von dem Portrait keine Notiz nahm.

Trotz der Musikbegeisterung der italienischen Höfe während der Hochrenaissance war es bislang auf Grund fehlender Belege nicht möglich, den Dargestellten zu identifizieren. Musiker waren damals zwar umworben und gut bezahlt; sie galten aber noch als Bedienstete und wurden oft nur mit ihrem Vornamen und ihrem Herkunftsort auf den z.T. erhaltenen Gehaltslisten geführt. Da die Höfe miteinander konkurrierten, warben sie ungeniert die Spitzenkräfte gegenseitig ab. Das führte dazu, daß viele Musiker lebenslang auf Wanderschaft waren. Somit sind ihre Lebensläufe auch nur schwer zu rekonstruieren.

Filipino Lippi war ein Schüler Sandro Botticellis; für ihn als Maler spricht der gelbliche Teint und die wie skulptiert wirkende Physiognomie. Obwohl das Bild erzählfreudig ist, wie der hübsche Ausblick durch ein Fensterkreuz auf einen größeren Baum zeigt, blieb das Portrait bisher namenlos. Wer von den vielen reisenden Musikern der Zeit sollte es denn auch sein? Insofern handelt es sich um eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Eine Anspielung auf einen bestimmten Namen, z.B. durch eine Abkürzung, fehlt leider in diesem Gemälde.

Aber der Boden der lira enthält eine Textzeile. Sie lautet: il chomîcar nõ fia p tempo mai. Sie ist in etwa zu übersetzen mit: nie vor der Zeit einsetzen! Diese Anweisung nimmt sich etwas seltsam aus, denn tritt der Musiker als Solist auf, geht diese Mahnung ins Leere. Offenbar hat der Dargestellte viel im Ensemble gespielt, wo es auf präzisen Einsatz ankommt. Interessant ist auch, daß, obwohl das Gemälde von einem Florentiner Maler stammt, der Text aber nicht in volgare geschrieben ist. War er vielleicht ein Musiker aus Neapel? Die Akzente lassen vermuten, daß die Zeile katalanisch beeinflußt wurde. Damit scheiden als infrage kommende Musiker viele aus: die Flamen, die Italiener, die Deutschen, die z.B. in Mailand und Mantua sehr beliebt waren.

Aus dem Text geht also hervor, daß der Musiker vordem in aragonesischen Diensten gestanden haben muß. Das bedeutete aber nicht, daß der Musiker nicht in Italien aufgetreten wäre. Den spanischen Musikern jedoch wurde gesteigerte Emotionalität zugeschrieben (B. Morbach). Der hier Gesuchte kann im Dienste des spanischen Königs von Neapel bzw. des Viceregno (ab 1503) gestanden bzw. ihn auf Reisen begleitet haben, denn man schmückte sich bei Staatsbesuchen gern mit seinen tüchtigen Musikern. Doch da die Lebensläufe von Musikern um die Zeit nicht berichtenswert erschienen, fällt es schwer, Belege dafür beizubringen.

Aus der kurzen Textzeile geht aber noch mehr hervor: eine Anweisung für präzises Zusammenspiel. Diese Weisung paßt speziell zu einem Musiker, dem ersten in der Musikgeschichte, der Tempoangaben für seine Kompositionen vorschrieb: Lluis del Milà, einem Katalanen aus Valencia mit unbestimmten Lebensdaten. Tätig war er anscheinend zwischen 1500 und 1561; er ist offenbar viel herumgekommen. 1536 veröffentlichte er ein Buch über ein musikalisches Gesellschaftsspiel. Es erschien unter dem Titel El maestro und ist die früheste Sammlung von Soloinstrumentalmusik. Das Buch wurde König Joan III. von Portugal (1502─1557) gewidmet. Daraus läßt sich schliessen, daß er auch in Portugal auftrat. Seine letzte Publikation von 1561 zeigt aber, daß er das höfische Leben in Italien gut gekannt haben muß. Sie lautet El cortesano und spielt damit auf das 1528 erschienene Erfolgsbuch von Baldassare Castiglione (1478─1529) Il libro del cortegiano an. Aus dem Erscheinungsjahr wurde geschlossen, Lluis del Milà sei in diesem Jahr gestorben; wahrscheinlicher jedoch ist, daß sein Werk posthum erschien, er also früher verstorben ist. In seinem späteren Leben war Lluis del Milàs Hauptinstrument die vihuela del mano. Für dieses Instrument hat er viele Kompositionen hinterlassen. Es handelt sich dabei um ein spanisches Zupfinstrument mit vier kreisrunden Schalllöchern. Sie wird auch als Kastenhalslaute bezeichnet.

Im Portrait haben wir es noch mit einer lira da braccio zu tun. Diese hatte sich um 1500 aus der fidula, der mittelalterlichen Fiedel, entwickelt. Sie ist auch auf einem Florentiner Holzschnitt von 1500 für Luigi Pulcis Morgante maggiore (größeres Märchen) anschaulich dargestellt. Von Jan Breughels d. Ä. (5 Sinne) bis Carpaccios (Darstellung im Tempel) und Gentile di Fabrianos (Krönung der Jungfrau) hat die lira da braccio vielfach bildlich Eingang in die Kunstgeschichte gefunden. Sie zeichnet sich aus durch breiten Fingerkorb, glatte Oberfläche, kurzen Hals und blattförmigen Wirbelkasten (hier außen verziert), in dem die Wirbel frontal angebracht sind. Normalerweise wurde sie mit 5 Saiten bespannt. Auch Serafino d’Aquila (s. Beitrag Conti, Serafino Aquilano) spielte die lira da braccio.

Die National Gallery of Art in Dublin datiert das Musikerportrait auf nach 1480. Stilistisch wie modisch steht es dem von Serafino d’Aquila nahe, das 1497 entstanden ist. Vom Maler her ist der Zeitraum für die Entstehung mit 1504 eingegrenzt, da Lippi in dem Jahr gestorben ist. Nimmt man als wahrscheinlich an, daß der Musiker das Jahr 1561 nicht erreicht hat, aber übliche 60 Jahre alt wurde, kann das jugendlich wirkende Portrait von Lluis del Milà um 1495 entstanden sein. Ein Jahr später wurde König Alfonso II. von Neapel durch das Heer des französischen König Charles XII. gestürzt. Demnach wäre der Musiker um 1470 geboren und würde hier im Bild als 25jähriger auftreten. Bei Lage der Dinge kann darüber keine exakte Feststellung getroffen werden. Die signifikanten Merkmale ─ Katalane und prominenter Lira-Spieler sowie die Tempoanweisung ─ sind jedoch für die Identifikation ausschlaggebend.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2018

Literatur
Gian Luigi Dardo. In: Dizionario Enciclopedio Universale della Musica e dei Musicisti. V. Torino 1988
John Griffiths. In: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians XVI. London 2001
Illustrations of the Paintings. Essential Guide. London 2002
Giuseppe Marchini: Filippino Lippi. Mailand 1975
Howard Mayer Brown/Sterling Scott Jones. In: The New Grove. Dictionary of Music and Musicians. XXII. London/New York 2001
Bernhard Morbach. In: Rbb Kulturradio. Alte Musik spezial. 24.8.2011
National Gallery of Ireland. Dublin 1951

Bildnachweis
Illustrations of the Paintings. Essential Guide. London 2002