Unbekannter Künstler

William Parr

71.05-Parr-240Zum Besitz der Society of Antiquarie’s, London, gehört ein Rundbild, von dem weder der ausführende Künstler noch der dargestellte Edelmann bisher bekannt waren. Dabei ist das Gemälde freigebig mit Daten: Zur Linken steht neben dem Kopf das Entstehungsjahr des Gemäldes (ANNO DNI ) 1558 und zur Rechten das Lebensalter des englischen Höflings: AETA SUE 45. Obwohl das Rundbild an Holbein d. J. erinnert, kann er nicht der Urheber sein, denn Holbein starb Ende 1543 in London. Der Künstler wäre demnach in Holbeins Umfeld bzw. unter seinen Nachfolgern zu suchen. Möglicherweise käme William Scrots, ein in England tätiger Niederländer infrage, der auch Guillim Scroets bzw. Scrotes genannt wurde. Er wurde 1546 als King’s Painter eingestellt und war in der Regierungszeit von Edward VI erfolgreich. Doch als der König 1553 starb, brach seine Karriere in London offenbar ab; seine Spuren verlieren sich. Mary Tudor jedenfalls beschäftigte ihn nicht mehr.

Auffällig ist nun, daß das Jahr 1558 das Jahr des Machtwechsels in England war. Die katholische Königin Mary I starb, und die protestantische Elizabeth I gelangte an die Macht. Das entsprach im Land einem politischen Erdbeben, weil dadurch in England die katholische Partei in die Defensive geriet. Damals wurden jedoch einige Höflinge, die sich als Protestanten positioniert hatten, in ihre Ämter zurückgeholt bzw. rehabilitiert.

Deswegen muß man ─ diesen politischen Hintergrund vor Augen ─ sich nach einer entsprechenden Person umschauen. Daß das Rätsel unter diesen offensichtlichen Voraussetzungen nicht schon längst von den Historikern gelöst wurde, ist verwunderlich, zumal die Society das Bild im Internet präsentiert.

Erschwerend ist dabei natürlich, daß es keine Tabellen damaliger Prominenter gibt, die nach Daten geordnet sind, die man auswerten könnte. Auch fehlt in der National Portrait Gallery, London, eine Vergleichsmöglichkeit. Und doch gestaltete sich die Auflösung ganz einfach. Der höhere Adel aus der Zeit der Regentschaft von Henry VIII ist uns bildhaft nahe gerückt durch die charaktervollen Kreidezeichnungen Holbein d. J. Viele seiner Zeichnungen waren Vorstudien für Gemälde. Die Gesamtausgabe mit Einführung und kritischem Katalog von K. T. Parker erschien schon 1947 bei Phaidon Press, sogar auf Deutsch (!).

Parker stellt in diesem Werk 85 in Windsor Castle archivierte Handzeichnungen vor, auch solche, die offenbar in der Art von Holbein entstanden. Deswegen ist die neue kritische Ausgabe von Jane Roberts: HOLBEIN Zeichnungen vom Hofe Heinrich VIII., Hamburg/Basel 1988, auf 50 Zeichnungen kondensiert. Doch in 71.05-Parr-NEB-240 Hans Holbein d. J.: William Parr.
Kreidezeichnung. Windsor Castle London
Printing Room RL 12231
(Parker Nr. 57, Roberts Nr. 33)
beiden Ausgaben findet sich der Marquess of Northampton (Nr. 12291),
nach links schauend, allerdings noch in jugendlicher Erscheinung (11 Jahre jünger als in dem Rundbild).

Warum ist nun der Marquess of Northampton der in dem Rundbild porträtierte? Parker hat zu allen identifizierten Porträts kurze Viten mitgeliefert. Diese Daten besagen: der Marquess trug den Geburtsnamen William Parr und wurde 1513 geboren. Theoretisch wäre es denkbar, daß zufällig auch ein anderer Edelmann dieses Geburtsjahr haben könnte, nur nicht bei der bei Parker auftretenden Elite. Was eine andere Zuordnung allerdings ausschließt, ist die Datierung des Bildes auf 1558.

Dieses politische Datum würde zwar auf andere Edelleute, die sich als Protestanten exponiert hatten, anwendbar sein, schränkt aber den Kreis der Infragekommenden ganz erheblich ein. Auch scheint die Bemerkung Parkers, »ein Gemälde [nach der Zeichnung] ist nicht bekannt« (Roberts S. 52), ein Parr-Porträt auszuschließen. Doch es ist die Frage, ob Parker je Gelegenheit hatte, sich mit dem Rundbild zu beschäftigen. Immerhin: Die Vita William Parrs liefert selbst den Beweis:

»Die Parrs waren eine alteingesessene Familie in Westmoreland, entfernt verwandt mit den Platagenets und Tudors« (Weir S. 462). William Parr, Sohn von Sir Thomas, wurde 1538 in den Ritterstand erhoben und 1539 zum Baron befördert. Seine Karriere bei Hofe wurde dadurch beflügelt, daß seine zweimal verwitwete Schwester, Lady Latimer, Katherine Parr (*1511/12), 1543 zur 6. und letzten Frau von Henry VIII erhoben wurde: Königin Katharina. William Parr wurde in den Privy Council berufen, bekam den Hosenbandorden, wurde 1.Earl of Essex (»The festivities began on 23 December, when William Parr was solemnly created Earl of Essex…« Weir S. 475) und 1546/47 1.Marquess of Northampton, 1549/50 sogar Lord Großkanzler. Die letzten Ämter verdankte er Edward VI, der ihn, da Catherine Parr die Königskinder jahrelang betreute, als ´the beloved uncle´ titulierte.

«Bei der Thronbesteigung von Königin Mary im Jahre 1553 wurde er als strenggläubiger Protestant ins Gefängnis geworfen [nominell, in Wirklichkeit aber wurde er des Verrats bezichtigt, weil er die ungekrönte Königin Jane (Grey) unterstützt hatte] und verlor alle Titel; doch unter Königin Elizabeth stand er wieder in königlicher Gunst und wurde mit allen Ehren in seine früheren Würden eingesetzt« (Roberts S. 102).

So ist es nur zu verständlich, daß der Rehabilitierte sich 1558 in wiedererwachtem Stolz malen ließ. Auf dem Rahmen läuft um das Bild ein lateinischer, nicht exakt erkennbarer Text um, in dem es um FORTUNA einst und jetzt geht d.h. eine deutliche Anspielung auf sein wechselvolles Schicksal. Es ist ein Distichon (ein Zweizeiler) und lautet:

MATE[R], QVAE QVONDAM, NV[N]C EST FORTVNA NOVERCA,
SED DEUVS EST IDEM, QVI FVIT ANTE MEVS.
In der Übersetzung von Dirk Kottke lautet der Text:
«Das Schicksal, das einst die Mutter [wie eine Mutter] war [d.h. günstig], ist jetzt die Stiefmutter [d.h. ungünstig]. Aber mein Gott ist derselbe, der er vorher war«.

Seine frühere Devise hatte Amour aveque loiaulté geheißen ─ ein Motto, das er wohl abgelegt hatte, da er sich mehrfach scheiden ließ und deswegen sogar von seiner Gönnerin Elizabeth getadelt wurde: »Dann wandte sie sich an Northampton und sagte ihm, anstatt mit ihr über Heirat und Ehe gekünstelte Unterhaltungen zu führen, hätte er sie lieber über die Gründe unterrichten sollen, die zu seiner skandalösen Scheidung und Wiederverheiratung geführt hätten“« (John E. Neale).

Auch das altehrwürdige Universal-Lexicon von Johann Heinrich Zedler (1732─54) weiß von Parr zu berichten: Er »besaß alle Eigenschafften, welche zu einem klugen und galanten Hofmann konnten erfordert werden. Dabei liebte er die Muse und die Poesie, und hätte nicht nur güte Studia, sondern auch eine grosse Fähigkeit und ansehnliche Bedienungen, welches er unter Heinrichen VIII, Eduarden VI, und Elisabeth genugsam erwiesen«. 1541 oder 1542 war William Parr Hauptmann der königlichen Ehrenwachen (Gentleman Pensioners). »Die ´Pensioners´ bildeten einen Trupp von altgedienten Gefolgsleuten des Königs, die ihn auf dem Schlachtfeld beschützten« (Roberts S. 102).

Vergleicht man nun die Zeichnung von Holbein von 1547, wo Parr flott in Erscheinung tritt, und das Rundbild von 1558, so spricht aus letzterem deutlich, daß die Jahre im Gefängnis ihn haben altern lassen; wiedererkennen kann man nur den Bart (und dieser ist bekanntlich ein bedingtes Identifikationsmerkmal). Nebenbei erweist sich ein erheblicher Niveauunterschied an der künstlerischen Qualität.

Nachzutragen bleibt nur, daß Robert seinem Text eine Bemerkung einfügt: »Nach Berichten von George Vertue sah dieser ein Porträt des Marquis of Northampton in der Sammlung von D. Meade, doch wissen wir nicht, ob das erwähnte Porträt der vorliegenden Skizze entsprach“« (Roberts S. 102). Daß dies nicht der Fall ist, erweist das Rundbild William Parrs.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2017

Literatur
John E. Neale: Königin Elisabeth. München 1967
K. T. Parker (Hg.): Die Zeichnungen Hans Holbeins in Windsor. Gesamtausgabe. London 1947
Jane Roberts (Hg.): HOLBEIN. Zeichnungen vom Hofe Heinrich VIII. Basel/Hamburg 1988
Alison Weir: Henry VIII. King and Court. London 2001

Bildnachweis
bbc.co.uk/arts/yourpaintings/paintings/portrait-of-an-unknown-gentleman-148348 (26.7.2014)