Erstveröffentlichung

Cariani
Cesare Martinengo

02.06 Cariani-Martinengo 590






















In einer ungarischen Privatsammlung befand sich ein in mehrfacher Hinsicht unübliches Portrait der Renaissance. Es wurde von Trocke 1932/1934 Cariani zugeschrieben, von anderen Kunsthistorikern aber als friulisch eingestuft. Bisher trug es den umschreibenden Titel
Ritratto d’Uomo con Cespuglio di Aranci (Mann mit Orangenstrauch. Öl auf Leinwand, 82 x 102 cm, o.J., früher Sammlung Marczell Nemes, Budapest). Als Breitformat und mit ausladender Pose sticht es gegenüber zeitgleichen Halbportraits ab. Es zeigt einen recht selbstbewußten Edelmann, der sich mit einem Schwertknauf unter der rechten Achsel als solcher ausweist. Voller Stolz faßt er eine Frucht an, deren Strauch betont aus einer antikisierenden Vase in Bildhöhe herauswächst. Kein Zweifel: Hier präsentiert ein landwirtschaftlicher Unternehmer herausfordernd das Produkt seiner Züchtung.


Doch ist der Titel wirklich zutreffend? Leider war das Original nicht zugänglich, so daß das Gemälde nur nach der Schwarz-Weiß-Reproduktion A 28 in der Cariani-Monographie beurteilt werden kann. Von 02.06-Cariani-Garda-NEB 240Limonen-Plantagen am Gardaseeder Form der vier Früchte her geschlossen kann es sich nur um Zitronen handeln und zwar um die Sorte feminello, wie die Zuspitzung jeweils unten zeigt; und Zitronen kamen in Oberitalien erst seit dem 13. Jahrhundert vor. In Sizilien wurde das aus China stammende Obst zuerst in Europa angebaut. Aber Franziskaner kultivierten im 13. Jahrhundert bereits in Gargnano am Ostufer des Gardasees Zitronen. Aber auch am westlichen Ufer bei Limone gibt es ein Antica Valle Franciscana. Diese Kulturen breiteten sich über den klösterlichen Bereich auch in Maderno und Toscolano (seit 1928 fusioniert) aus. Gegenüber am Westufer des Gardasees befindet sich das Städtchen Salò, und hier steht noch ein Palazzo Martinengo, der später (1577) dem venezianischen General Marchese Sforza Pallavicino als Amtssitz diente. Bis zur Invasion Napoleons hielten die Venezianer das Ostufer, weswegen der junge Goethe 1786 beim Zeichnen von der venezianischen Polizei in Malcesine verhaftet wurde.

02.06-Cariani-GardaNEBHistorische Limonen-Plantage
in Limone/Gardasee
Der 1763 gestorbene Verleger und Enzyklopädist Zedler (VI Sp. 174) schrieb bzw. ließ schreiben: »Der Citronen-Baum … aus Meden und Persiea hat Palladius Neapolitanus nach Italien gebracht… Bey uns wird er nur in denen Gärten, sonderlich grosser Herren Lust-Gärten, gesehen«. Des Klimas wegen mußten diese aber für die Winterszeit in Orangerien verbannt werden, um die Büsche vor Frost zu schützen. In der Kunstgeschichte tauchen Zitronenbäume, wie Lottlisa Behling (S. 141) festgestellt hat, erstmalig bei Lorenzo Ghiberti (1378─1455) auf den bronzenen Türen des Baptisteriums in Florenz auf. Chagall verwertete sie zur Darstellung des Laufhüttenfestes.

Der Zitronenbaum wurde damals noch als etwas Exklusives angesehen; Ärzte nutzen die Frucht, um sich bei Krankenbesuchen vor Infekten zu schützen. Darüber hinaus wurde die Zitrone auch metaphorisch überhöht. Bei Hildegard Kretschmer (S. 467/70) steht: »Da sie im Winter blüht und gleichzeitig Früchte, Blüten und grüne Blätter trägt, wurde die Zitrone zum Symbol für Leben und zum Lebenssymbol schlechthin. Der Zitronenbaum gehört auch zu den Bäumen Im Paradies und wurde im Judentum öfter mit dem Baum der Erkenntnis in Verbindung gebracht«.

Bedauerlicherweise hat der Künstler das Portrait nicht datiert. Schließt man sich der Zuordnung an Cariani an, könnte das Bild zwischen 1520 und 1530 gemalt worden sein. Für den aus der Nähe von Bergamo stammenden Cariani als Urheber spricht, daß die Familie Martinengo aus dem Raum Bergamo stammt (es gibt einen gleichnamigen Ort von rd. 10.000 Einwohnern dort); ihre Verzweigung reichte jedoch bis an den Gardasee ─ damals durchgängig venezianisches Gebiet, während im 15. Jahrhundert der Ort zum Herrschaftsbereich der Visconti gehörte. Außer in Gargnano besaßen die Martinengo auch in Brescia und in Salò jeweils einen Palast.

In die Politik haben die Martinengos offenbar nicht eingegriffen, sodaß es heute Schwierigkeiten macht, Spuren des Dargestellten auszumachen. Das wenige, das noch übermittelt ist, besagt über den Porträtierten: Er führte eine »straordinaria abilità negli affari« (ausnehmende Geschicklichkeit in seinen Geschäften). Als Grafengeschlecht waren die Familienmitglieder zum Dienst in der miliziaveneta verpflichtet. Zur Zeit der Renaissance waren etliche Familienmitglieder militärisch engagiert. Lt. condottieri di ventura ist verbürgt, daß im März 1523 vier Martinengos, Ercole und Scipione auf Seiten der Venezianer bei Garlasco kämpften, seit an Seit mit Camillo und Roberto Martinengo, die in der Schlacht fielen. Im Juli 1526 kam Marcantonio da Martinengo bei San Giacomo im Kampf für die Serenissima ums Leben. Celso Martinengo, 1515 als Massimiliano Martinengo geboren, kommt nicht mehr infrage, zumal er ab 1533 Kanoniker im Lateran wurde. Er war das 12. Kind des Conte Cesare II Martinengo, der wohl um 1475 geboren sein wird, 1495 heiratete und um 1520 rd. 45 Jahre alt war. Dies etwa entspricht dem Alter des Porträtierten. Ein gleichnamiger Vorfahr war condottiero bei dem Mailänder Herzog Filippo Visconti und starb 1461.

Ein weiterer Vertreter der Familie wurde von dem für die Markgrafen Gonzaga in Mantua tätigen Porträtisten, Bartolommeo Veneto gemalt: Ludovico Martinengo. Das Bild (National Gallery, London Nr. 287) ist 1530 datiert und bezeichnet den Dargestellten als 16-jährigen. Auch dieser etwas verträumt aussehende Jüngling hält bereits in der Rechten ein Schwert, das wohl nicht nur als Statussymbol für einen Edelmann gedacht war. Dieses, für Bartolomeo Veneto gesicherte Werk zeigt eine 02.06-Baumzeichnung 240Baum als Stickmuster am Hemdrote cappa mit Federbusch sowie einen edel gearbeiteten roten Überwurf über einem schlicht schwarzen Gewand. Durch ihre Handarbeit treten die Manschetten und der Kragen hervor, jeweils rot auf weißes Leinen gestickt. Nicht ganz zufällig ist darin als Ornament eine stilisierte Pflanze zu erkennen, besonders auf der linken Manschette über dem Schwertknauf. Aus einem dünnen Stamm in der Mitte sprießen acht Blätter in Rot.

Sie sind etwas stärker formalisiert als auf dem Wappen der Familie Martinengo, das – realistischer – ein Bäumchen mit zahlreichen und dadurch dichteren Blättern in der Krone zeigt. Übereinstimmung besteht aber in der Verbreiterung des Stamms am Wurzelansatz. Im Wappen ist der Stubben angedeutet; im Hemd wird die Wurzel durch eine breite Horizontale 02.06 BartVen-Lud-Martin 240Bartolomeo Veneto: Ludovico Martinengo
National Gallery, London Nr. 287
beschrieben. Aus beiden Versionen geht eine starke Bindung der Familie Martinengo an den Obstanbau hervor, auf den offenbar Cesare Martinengo durch seine Erfolge besonders stolz war.


Die Familie war offenbar auch kulturell ambitioniert, denn die Biblioteca Civica Queriniana di Brescia über einen sehr wertvollen Codex (B 19) aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts: Dantes Commedia mit zahlreichen Buchillustrationen, welche die Familie der öffentlichen Bibliothek übereignet hat. Das in dem Holzschnitt wiedergegebene Signet zeigt ebenfalls ein Bäumchen. Offenbar ist das Werk durchgängig von einem Kopisten erstellt worden; wann und wie die Transaktion erfolgte, kann man heute nicht mehr feststellen. Die 2012 noch verfügbare Illumination steht jedoch nicht mehr im Internet.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2014


Literatur

Gabriele Archetti. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 71. Catanzaro 2008
Lottlisa Behling: Die Pflanzenwelt der mittelalterlichen Kathedralen. Köln/Graz 1964 S. 141
Hildegard Kretschmer: Lexikon der Symbole und Attribute in der Kunst. Stuttgart 2008
Laura Pagnotta: Bartolomeo Veneto. L’Opera Completa. Florenz 1999
Rodolfo Pallucchini/Francesco Rossi: Giovanni Cariani. Milano 1983
Johann Heinrich Zedler: Das Grosse vollständige Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Leipzig 1732─54 Bd. VI Sp. 174
www.condottieridiventura.it/condottieri/a/0007 (25.2.2012)

Bildnachweise

Rodolfo Pallucchini/Francesco Rossi: Giovanni Cariani. Milano 1983 A28 S. 284
Laura Pagnotta. Bartolomeo Veneto. L'Opera Completa. Firenze 1997. S. 150

Archiv Wilhelmi
www.google.de/?gws_rd=ssl(25.10.2015)

misinta.it/biblioteca-digitale-misinta-2/codici-manoscritti/xiv-secolo-dante-codice-della-famiglia-martinengo/ (29.2.2012)
google.de/imgres?imgurl=http%3A%2F%2Fwww.gardaconcierge.com%2Fwp-content%2Fuploads%2F2013%2F07%2Flimonaia-Limone-sul-Garda-500x360.jpg&imgrefurl=http%3A%2F%2Fwww.gardaconcierge.com%2Fde%2Flimonaia-unter-den-sternen%2F&h=360&w=500&tbnid=nMyf86Za1ppy_M%3A&docid=RXrmgNxMwiu8nM&ei=lh8dVtiXIKiBywPq1pLQBA&tbm=isch&iact=rc&uact=3&dur=1959&page=3&start=54&ndsp=30&ved=0COYBEK0DMDlqFQoTCNi6-pnev8gCFajAcgodaqsESg (13.10.2015)
Laura Pagnotta: Bartolomeo Veneto. Firenze 1997  Tafel XXVII