Erstveröffentlichung

Cariani

Lelio Capilupi

02.04-Cariani-Capilupi 240Cariani: Lelio CapilupiDie Renaissance lebte aus der Wiederentdeckung der Antike. Überall wurde nach den Manuskripten antiker Autoren gesucht; ihre Texte wurden durch Abschrift vervielfältigt. Solche Manuskripte zu besitzen, galt als höchstes Gut. Seit Petrarca suchten die Dichter Ovid, Vergil, Horaz etc. nachzueifern.

Insofern ist das in der Gemäldegalerie Berlin (Nr. 188) seit 1821 befindliche Cariani-Portrait (Öl auf Leinwand 59x51 cm. um 1514-16) eines empfindsamen Poeten ein sozusagen klassischer Fall: Die rechte Hand des Jünglings ruht auf einem Marmorblock, an dessen Vorderseite eine Kopie des berühmten Homer-Porträts herausgearbeitet ist. Das Original dazu aus dem 2, Jahrhundert v. Chr. befindet sich als Kopf einer Herme im Museo Archeologico Nazionale in Neapel (Busto di Omero, Nr. 6023). Es zeigt den blinden Sänger als alten Mann mit Vollbart. Cariani hat diese hellenistische Porträtplastik zitiert, wie Rembrandt in seinem Gemälde Aristoteles betrachtet eine Büste von Homer (1653. Metropolitan Museum, New York). Durch die häufige Reproduzierung dieser Skulptur ist Blindheit zum Erkennungsmerkmal für Homer geworden; die vorfindliche Blindheit wurde in der Rezeption von der Büste auf Homer übertragen. Dabei ist man sich heute gar nicht so sicher, daß Homer tatsächlich erblindet war, denn möglicherweise hat der Zahn der Zeit die differenziertere Darstellung der Augen gelöscht.

Jedenfalls ist bei dem Jüngling von einer besonders intensiven Beziehung zu Homer auszugehen. Die Vermutung lag nahe, daß der Abgebildete vielleicht die Epen Homers übersetzt haben könnte. Das Gemälde wurde 1910 von Foratti auf 1535 angesetzt und neuerdings von Pallucchini/Rossi auf 1514/16 eingestuft. Die maßgeblichen Übersetzungen ins Lateinische der homerischen Epen liegen früher, eben in der Frührenaissance. Maßgeblich wurde die Übersetzung von Laurentius Valla (1407─1457), die 1502 in Venedig im Druck erschien. Insofern käme allenfalls ein nachfolgender Übersetzer infrage.

Der Einzugsbereich ist aber größer zu ziehen und dabei zu berücksichtigen, daß die Verehrung der antiken Autoren sich bei den Dichtern in Gedichten über die frühen Dichter äußerte. So gelang der ´Durchbruch´ erst nach der Lektüre der Publikation von Elisabeth Klecker Dichtung über Dichtung. Die Autorin hat zahlreiche Beispiele zusammengetragen. Davon erschien zunächst Ian Anisius mit seinen beiden Homer-Epigrammen denkbar zu sein. Doch seine Lebensdaten (1472─ ca.1536) schlossen den als Jüngling abgebildeten, ca. 1490 Geborenen aus.

02.04-Cariani-Capil NEB-Homer 240Homer-Bildnis. Louvre, Paris
(Abguss SH 265)
Erst ein weiterer Hinweis traf ins Ziel. Es gibt ein Gedicht von Lelio Capilupi (19.12.1497 Mantua ─ 3.1.1560), das »In Homeri marmoreum caput Romae efossum…« (auf Homers marmornes Haupt, das in Rom ausgegraben wurde) betitelt ist. Diese Huldigung Homers kommt im Gemälde eindeutig zum Ausdruck. Das Gedicht muß Anfang des 16.Jahrhunderts entstanden sein, wurde aber erst 1590 in Rom gedruckt unter dem Titel Capiluporum carmina. Das zeigt an, daß sein Lobpreis Homers lange Bestand hatte. Vor dem Druck zirkulierten in der Regel Abschriften. Doch wer war dieser Capilupi?

Sein Vater diente als Sekretär bei Isabella d’Este (s. Beitrag Bartolommeo Veneto, Isabella d’Este). Lelio war der Erstgeborene von acht Kindern. Insofern waren in Mantua beste Voraussetzungen für seine Bildung gegeben. 1519 ließ er sich in Bologna, der führenden Universität Italiens, an der juristischen Fakultät einschreiben, wohl als Konzession an den Vater. Anschließend begab sich Lelio um 1546 nach Rom. Bei diesen Aufenthalten war er auch als Informant für den Hof in Mantua tätig. Der noch erhaltene Brief eines Kommilitonen erwähnt »alcuni nostri gentiluomini mantovani molto virtuosi gentili tra‘ quali Messer Lelio ed Ippolito Capilupi fratelli« (einige unserer Edelleute aus Mantua sind virtuose und gewandte Herren wie die Brüder Capilupi). Insgesamt verschrieben sich drei seiner Brüder, auch Alfonso, Camillo und Ippolito, der Literatur. Lelio lehnte sich stark an Pietro Bembo (1470─1547) an. Insofern ist es sehr wahrscheinlich, daß Lelio zur Zeit des Gemäldes zum Gefolge Bembos gehörte. Dieser agierte damals wie später der deutsche Dichter Stefan George, der zahlreiche junge Leute um sich scharte. 1514 hielt sich Bembo wieder in seiner Vaterstadt Venedig auf, da er dort für den Papst verhandelte. Capilupi beherrschte Latein, schrieb aber überwiegend in volgare, der damaligen Umgangssprache, für deren Veredelung Bembo sich besonders einsetzte. 1585 erschienen die Rime del Sign. Lelio e fratelli Capilupi in Mantua und wurden mehrfach nachgedruckt; so stark war deren Resonanz.

02.04-Cariani-Capilupi-NEBFélix Vallotton: Homer-Büste
Holzschnitt nach der Herme im Museo
Archeologico Nazionale in Neapel
1552 gibt es eine Notiz über Lelios Präsenz in Ferrara, dem mit Mantua verwandten und befreundeten Hof, von dem Isabella d’Este stammte. Damals hielt sich der bewunderte Ariost (1474─1533) dort auf, der stilbildend wirkte. Doch Lelio zog die Stille seiner Studierstube vor, um sich auf seine Poesie zu konzentrieren. Er starb mit 62 Jahren und wurde von seinem Bruder in S. Francesco in Mantua, bestattet. Seine erhaltenen Schriften liegen im Palazzo Poggi in Bologna in der Sammlung der Universitätsbibliothek in der via Zamboni. Dort befindet sich auch sein Altersportrait eines unbekannten Künstlers. Es eignet sich kaum zum Vergleich, weil Lelio im vorgerückten Alter einen Vollbart trug. Überein stimmen die lange Nase und die hohe Stirn mit dem Jugendbild.

1899 wurde das vorliegende Portrait durch Bernard Berenson Cariani zugeschrieben. Von manchen wird es mit Bellini in Verbindung gebracht; doch wäre die Ausführung dann wohl strenger ausgefallen. Auf Grund des Fensterausblicks haben manche das Gemälde auch Giorgione zugeordnet. Der Sims als Basis in Portraits ist bei beiden Malern anzutreffen.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2014


Literatur
Gemäldegalerie Berlin. Berlin 1986
Elisabeth. Klecker: Dichtung über Dichtung. Homer und Vergil in lateinischen Gedichten italienischer Humanisten des 15. und 16.
Jahrhunderts. Wien 1994
C.Mutini. In: Dizionario Biografico degli Italiani. Bd. 18. Roma 1975
www.lelio.capilupi.it/lelio_capilupi_lalius_lelius_luio_capilupi_poeta_mantovana_htm (12.4.2011)
http://library.oxfordjournals/org.content/s6-13/208/extract

Rodolfo Pallucchini/Francesco Rossi: Giovanni Cariani. Milano 1983

Bildnachweis Homer-Büste:
http://museoarcheologiconazionale.campaniabeni culturali.it/itinerari-tematici/galleria-di-imagini/RA295 (25.4.2011)
Félix Vallotton. Kunstpostkarte