Sandro Botticelli
Giovanni de’Medici

109.00 Boticelli-dMedici-240The Ultimate Renaissance Portrait wurde im September 2020 getitelt, als dieses unterkühlte, fast neusachliche Portrait eines jungen Mannes, gemalt von dem Florentiner Sandro Botticelli (1444/45 ─ 1510) im Januar 2021 in New York bei der Auktion einen Spitzenpreis erzielte. In der Botticelli-Ausstellung von 2010 wurde das Gemälde noch Bildnis eines jungen Mannes mit Medaillon genannt. Seit der Auktion lautet der Titel ausweichend Young Man Holding a Roundel, weil bisher keiner der amerikanischen Experten dahinter kam, um wen es sich in dem Bildnis eigentlich handelt. Vor der Versteigerung befand es sich als Leihgabe in der National Gallery of Art, New York City (Öl auf Holz 58,7 x 39,4 cm).

In dem farblich wie formal streng gehaltenen Bildnis tritt ein Jüngling als Dreiviertelportrait vor einer Fensteröffnung auf. Solche Andeutungen einer Fensteröffnung finden sich mehrfach bei Botticelli-Portraits als ein zweiter Rahmen (so auch bei dem Portrait des Piero de’Medici), der stets überschritten wird. Die gleichsam aus dem Rahmen heraustretende Person ist in ein blaugraues Tuch gekleidet („ein kühles Mauve“. Anna Rühl) und trägt keinerlei Schmuck am Körper; jedoch präsentiert sie mit beiden Händen ein offenbar kostbares, goldgrundiges, gerahmtes Rundbild, das bislang ebenfalls ungeklärt blieb. Anna Rühl (S. 200) sieht darin »ein Fragment eines Altarbildes der Sieneser Malerschule aus dem 154. Jahrhunderte«. Dabei ist ganz offensichtlich dieses Rundportrait der Schlüssel zum Ganzen, wie auch bei Botticellis Bildnis eines Mannes mit der Medaille des Cosimo de’Medici in den Uffizien sowie bei weiteren zeitgleichen Beispielen (bei Biagio d’Antonios Portrait eines Mannes von ca. 1470 oder Hans Memlings Portrait eines Mannes mit römischer Münze von 1471/74). Nur hat man bei Botticellis Jüngling den Problemfall einer doppelten Identifizierung zu lösen.

Der Bärtige im Rundbild ist dem Heiligenschein nach tatsächlich ein Heiliger. Aber er tritt anders auf als in den spätgotischen Altartafeln, wo die Nothelfer hinter den Stiftern postiert wurden. Davon weicht die von Botticelli gefundene Lösung ab. Der bärtige Heilige ist demnach kein Schutzheiliger, sondern ihm kommt m Gemälde anscheinend die Aufgabe zu, das Lebensziel des Jünglings zu verkörpern, das sich er sich mit dem Heiligen als Vorbild gesetzt hat.

Unbestritten ist, daß es sich bei dem Jüngling um eine Person aus Florenz handelt; doch welchen Alters? Das schlichte, aber vornehm hochgeschlossene, blaugraue Jackett ist nicht einer Amtstracht zuzuordnen. Im Werk von Botticelli kommen aber mehrfach Kleidungsstücke dieser Farbe vor, wie z. B. bei Botticellis Gemälde Anbetung der Könige von 1476, in dem mehrere Medicis auftreten. Daß Botticelli hauptsächlich für diese Familie tätig war, macht es 109.00-Botic-Anbetung-240Sandro Botticelli: Anbetung der Könige.
Santa Maria Novella, Florenz
wahrscheinlich, daß auch hier ein Medici porträtiert wurde.


Die Datierung des Bildes variiert; das Auktionshaus setzte ohne Begründung ca. 1480 an und orientierte sich dabei an Stapleford. Anna Rühl meinte: »Eine Datierung in die erste Hälfte der 1480er-Jahre entspricht auch der relativ hohe Abstraktionsgrad der konstruierten Bildräumlichkeit« (S. 198). Es ist jedoch viel wahrscheinlicher, daß dieses Portrait um 1490 entstanden ist. Dann käme der damals 15jährige Giovanni de’Medici (1475–1521) infrage. Die ausgeprägte Nase und die Haarfülle sprechen für einen Sohn Lorenzos des Prächtigen. Er wurde, wie häufig bei Nachgeborenen in vornehmen Familien des Mittelalters (und diese Regel galt damals noch), der Kirche versprochen; so auch Giovanni. Dort d.h. in Rom sollte er Karriere machen und so den Einfluß der Medici vergrößern. Auf Grund des Drucks seitens Lorenzo de’Medici auf das Konsistorium erfolgte Giovanni de’Medicis Erhebung zum Kardinal schon am 9.3.1489. 1492 nahm er bei der Wahl des Papstes Alexander VI. bereits am Konklave teil. 1512 verschaffte ihm ein Heer der Heiligen Liga die Rückkehr der Medici an die Macht in Florenz. Als Papst Julius II. 1513 starb, entschied sich das Konklave für ihn. »Giovanni de’Medici, der Sohn Lorenzos, wurde als Leo X. 109.00-Botic-Leo-X-240Raffael Santi: Papst Leo X.
mit zwei Kardinälen. Uffizien, Florenz
Nachfolger des ´Soldaten-Papstes` Julius. Von seinem Vater hatte Giovanni viele gute Eigenschaften der Medici geerbt. Er war taktvoll und gutmütig, zurückhaltend und klug. Wie Lorenzo förderte er Kunst und Wissenschaft und verpflichtete die großen Geister der Renaissance nach Rom« (James Cleugh S. 252).


Es gibt eine Reihe von Vergleichsbildern Giovannis bzw. Leo X. Domenico Ghirlandaio malte Giovanni mit langem Haar in Santa Trinità in Florenz, aber schon etwa zehn Jahre zuvor und dadurch nicht verwertbar. Am bekanntesten ist das Portrait von Raffael 1512/15 sowie ein flämischer Holzschnitt des Papstes im Profil. Darin ist sein Gesicht bereits von Leiden gezeichnet.

Beide führen jedoch in diesem Zusammenhang nicht weiter, da Leo X. hier vom Alter her fortgeschritten und vor allem korpulent geworden ist. Daher konzentriert sich alles auf das Roundel. Es zeigt einen bärtigen Heiligen aus einer früheren Zeit und in ein blaugraues Tuch gehüllt. Offen muß bleiben, ob dieses Heiligenbild tatsächlich in Giovannis Besitz war, oder ob es von Botticelli das Portrait erfunden wurde. 109.00-Boticelli-Grafik-240Unbekannter Künstler: Papst Leo X.
Bibliothèque Nationale, Paris
Entscheidend ist jedoch, welchen Heiligen es darstellt.


In der frühen italienischen Malerei treten die Heiligen zumeist frontal in Erscheinung und sind wenig individuell, eher standardisiert gestaltet. Dadurch ist ihre Eindeutigkeit etwas reduziert. Dafür kamen damals schriftlichen Bezeichnungen in den Bildern häufiger vor. Der kräftige Vollbart ist für die Darstellung Leos typisch. Zwei Beispiele aus dem altkirchlichen Bereich lassen annehmen, daß es sich bei dem Roundel tatsächlich um Leo I. handelt. Diesem wollte Giovanni ganz offenbar nachstreben, indem er seinen Stuhl einzunehmen plante. Damit würde er der Stellvertreter Gottes auf Erden und über alle Fürsten Europas gesetzt.

109.00 Leo-240Um wen handelte es sich bei diesem heiliggesprochenen Papst? »Er beanspruchte als Bischof von Rom den Primat über die anderen Bischöfe. Er fand durch sein Zusammentreffen mit Attila Eingang, als er an der Spitze einer Gesandtschaft den Hunnenkönig [s.u.], der Rom bedrohte, zum Abzug aus Italien bewog. Drei Jahre später konnte er den Vandalenkönig Geiserich von einer Zerstörung Roms abhalten« (Erwin Heinzel).

Aber die Geschichte wiederholte sich nicht: Bereits sieben Jahre vor dem sacco di Roma starb Giovanni de’Medici in Rom. Daß er sich mit Leo I. diesen machtbewußten Papst zum Vorbild genommen hatte, entsprach dem machtpolitischen Denken der Medici. Es gibt im Vatikan die Stanze des Heliodor mit einem Fresco Raffaels, »das Leo I. gegenüber dem Hunnenkönig Attila darstellt. Das Gesicht des Papstes ist ein Porträt Leo X.« (James Cleugh S. 261).

109.00-Boticelli-Leo3-240Zwei Beispiele kirchlicher Darstellung
von Papst Leo I.
Die Anspielung auf Leo I. im Portrait des jungen Giovanni wurde im Gegensatz zu heute damals sofort von allen Zeitgenossen ohne Kommentar verstanden. Das Gemälde dürfte um 1490 entstanden sein d.h. kurz nach Giovannis Erhalt seiner Kardinalswürde. Damit gab er wortlos, aber bildhaft seine ´Regierungserklärung´ ab. Für die Deutung des Roundels als Portrait Leo I. spricht auch, daß schon dieser Papst konkurrierende Kirchenlehren heftig bekämpfte. Bezeichnenderweise wiederholte Leo X. das Vorgehen seines Vorbilds, als er Martin Luthers Schriften pauschal ablehnte und ihn 1521 exkommunizierte. »Die Politik Leo X. in diesen Jahren ist deshalb von jeher mit besonderer Aufmerksamkeit studiert worden, ohne daß man überall in die letzten Falten zu blicken vermöchte« (Karl Brandi S. 123).

 

Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2023 


Literatur
Karl Brandi: Karl V. Frankfurt 1979
James Cleugh: Die Medici. München/Zürich 1977
Damian Dombrowski: Botticelli. Berlin 2010
Erwin Heinzel: Lexikon Historischer Ereignisse und Personen. Wien 1956
Anna Rühl. In: Botticelli. Bildnis, Mythos, Andacht. Frankfurt 2010

Bildnachweise
sothebys.com/en/buy/auction/2021/master-paintings-sculpture-part-i/portrait-of-a-young-man-holding-a-roundel
wikimedia.org/wiki/File:Zanobi-Altar.jpg (4.5.202
wikipedia.org/wiki/Portrait_of_Leo_X_(Raphael) (4.5.2022)
James Cleugh: Die Medici. München/Zürich 1977 S. █
http://katholisch-informiert.ch/2012/09/18/(1.5.2022)